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1. Mai-Rede: Revolution. Punkt. Schluss

Lohngleichheit. Punkt. Schluss.

Das ist das Motto des diesjährigen 1. Mai. Nun liebe Genossinnen und Genossen, ich muss ehrlich sagen, ich bin mit diesem Motto nicht zufrieden. Wieso?

Weil mir Lohngleichheit nicht reicht. Weil ich mehr will als das, was selbstverständlich ist.

Ja, vielleicht ist Lohngleichheit eine realisierbare Forderung. Aber Realisten haben die Welt noch nie verändert. Kämpferinnen haben die Welt verändert. Und ich bin eine Kämpferin. Das haben sich die Menschen vor hundert Jahren wohl auch gedacht. Denn vor 100 Jahre haben wir der Geschichte dieses Landes einen anderen Drive gegeben.

Hunderttausende von uns waren auf der Strasse, haben ihre Arbeit niedergelegt und haben gekämpft für die wichtigsten Errungenschaften in diesem Land: Die AHV, das Frauenstimmrecht, die Verkürzung der Arbeitszeit.

Vor 50 Jahren, im Mai 68 waren wir wieder auf der Strasse. Diesmal mit anderen wichtigen Forderungen: Frieden, Frauenstimmrecht zum Zweiten – weil wenn es um Frauen geht, ist immer alles ein bisschen komplizierter, nicht wahr – und für das Recht auf den eigenen Körper.

Heute, ja heute, erleben wir einen flächendeckenden Angriff von rechts auf unsere Errungenschaften.

Die AHV steht unter Druck, weil kein politischer Wille da ist, sie zu stärken. Wer vom Staat Unterstützung braucht, in einer schwierigen Lebenssituation, der oder die muss nach der neusten Gesetzgebung auf das Grundrecht auf Privatsphäre verzichten. Abbaupakete jagen Abbaupakete in fast allen Kantonen. Bei der Gesundheit, bei der Bildung, bei den Schwachen wird abgebaut, als gäbe es kein Morgen.

Wenn wir den Blick über die Grenze hinauswagen, dann sieht es nicht besser aus. Es riecht nach Krieg. Die Mächtigen dieser Welt rasseln mit ihren Säbeln, inszenieren Kräftemessen und rüsten auf.

Frauen* und LGBT-Personen sind trotz der Kämpfe der 68er und der Folgebewegungen nach wie vor Menschen zweiter Klasse. Wir sind einer regelrechten Gewaltepidemie ausgesetzt – Gewalt kennt keine Klassen, keine Nationalität, kein Alter – aber ein Geschlecht.

Das ist nicht die Gesellschaft, die ich will. Das ist nicht die Gesellschaft, in der ich meine Kinder grossziehen möchte.

Wir haben vor 100 Jahren einen Gesellschaftsvertrag gemacht – der besagte, dass alle von dem in diesem Land erarbeitete Wohlstand profitieren sollen, das wir mehr Demokratie und Rechte kriegen. Wir haben den Arbeitsfrieden angeboten, und dafür einen gewissen Wohlstand für einige von uns erhalten.

Doch heute müssen wir uns fragen, ob dieser Gesellschaftsvertrag noch gilt. Und ob er uns, den 99%, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen um zu leben, überhaupt noch dient – oder je wirklich gedient hat.

Man muss sich fragen, ob die Sozialpartnerschaft eigentlich noch gilt. Wenn der Reichtum sich beim reichsten Prozent sammelt, wenn die 99% krüppeln und kaum über die Runden kommen, wenn die 300 reichsten Menschen in diesem Land 60 Milliarden reicher werden in einem Jahr und auf der anderen Seite 615’000 Leute trotz Arbeit nicht in Würde leben können, wenn die AHV riesige Löcher aufweist, wenn die Arbeitszeit rauf statt runter geht – wieso, Genossinnen und Genossen sollen wir still sein?

Wieso sollen wir uns dem Diktat des Kapitals beugen?

Wenn wir um Verbesserungen von unseren Arbeits- und Lebensbedingungen bitten, werden wir erpresst. Denn nichts anderes als Erpressung ist die Drohung nach Wegzug, nach Schliessung von Unternehmen, nach Abbau von Arbeitsplätze.

Wieso sollen wir noch gehorchen, wenn einfache Dinge wie Lohngleichheit – und ja es ist eine einfache, selbstverständliche Forderung – nicht erfüllt werden? Wenn Menschen sterben in der reichen Schweiz, weil sie keinen Zugang zu Spitäler erhalten? Wenn AHV Bezügerinnen Mangelernährung aufweisen, weil sie sich keine Ausgewogene Ernährung leisten können?

Liebe Genossinnen und Genossen, die Zeit ist gekommen, nicht mehr zu bitten, sondern zu fordern. Nicht mehr zu verhandeln, sondern zu kämpfen. Nicht mehr zu reden, sondern zu handeln.

Liebe Genossinnen und Genossen, was wir brauchen, ist eine Revolution – eine politische, gesellschaftliche, friedliche und vor allem feministische Revolution! Denn die Zeit ist reif dafür. Wir brauchen ein System, das sich an den Bedürfnissen aller Menschen orientiert und nicht am Profit der Reichen. Wir brauchen eine Arbeitszeitverkürzung, eine Volkspension und einen verantwortungsvollen Umgang mit unserer Erde.

Und dafür braucht es einen Aufstand. Denn offensichtlich haben die auf der anderen Seite vergessen, wer wir sind. Wir sind nicht einfach ihre Sklavinnen und Sklaven.

Wir, sind DIE, die Innovation und Wohlstand bringen. Wir, wir sind DIE, die unzählige unbezahlte Stunden Reproduktionsarbeit leisten. Ohne uns, geht nichts!

Und wir lassen und nicht mehr für ein Butterbrot abspeisen.

Bread and Roses ist eins meiner Lieblingslieder. Es ist ein Arbeiterinnenlied, das den Marsch der Frauen eben für Brot und Rosen beschreibt. Meine Lieblingsstelle lautet:

«As we go marching marching, we’re standing proud and tall. The raising of the women means the raising of us all.»

Und wir marschieren wieder. Und zwar auf der ganzen Welt. Wir sind die einzige Bewegung, die im Moment global in zig Ländern und Weltregionen zu sehen ist.

Am 8. März haben Tausende und Abertausende von Frauen* in Spanien ihre bezahlte oder unbezahlte Arbeit niedergelegt. Der feministische Streik richtete sich gegen Benachteiligung am Arbeitsplatz, gegen gesellschaftliche Diskriminierung und gegen häusliche Gewalt. Und zeigt so exemplarisch auf, dass Feminismus eben alle Machtstrukturen angreift und nicht nur eine Dimension.

Aber nicht nur in Spanien auch im Tel Aviv, in Indien, Südkorea, London, Mexiko, China, in Bern, Aargau, Zürich, Genf. Gemeinsam gegen das Patriarchat. Gemeinsam gegen Unterdrückung. Gemeinsam gegen das Kapital.

Wir sind viele. Und wir werden immer mehr. Spitzt die Ohren, ihr Herrscher. Eure Zeit ist gekommen.

Wir werden nicht aufhören, wir werden weitermachen. Wir werden nicht schweigen, wir werden nur noch lauter. Wir werden nicht Halt machen vor Traditionen und vor illegitimen Machtpositionen. Wir werden angreifen. Wir werden kämpfen.

Wir werden das feministische Jahrhundert einläuten, dass alle Menschen befreit.

Wir, wir sind viele. Und wir sind überall.

Wir demonstrieren in Frankreich gegen die Arbeitsmarktreform, in Hamburg gegen die G20 und in Davos gegen das WEF. Wir schockieren die bürgerliche Öffentlichkeit, benützen unsere nackte Körper und unsere gleichgeschlechtliche Liebe als politische Waffe. Wir kämpfen in der Burka in einem Rapvideo gegen die Unterdrückung. Wir legen in Spanien, in Bangladesh und in den Redaktionen in Bern die Arbeit nieder. Wir schmuggeln Flüchtlinge illegal über die Grenzen, wir verstecken sie bei uns Zuhause. Wir gehen millionenfach auf die Strasse und kämpfen gegen das Patriarchat, gegen Homo- und Transphobie, wir schreien «BlackLivesMatter» und twittern #metoo.

Wir heissen Nekane, Ahed, Luisa, Jolanda, Lakshmi, Dolores, Laury, Heaily. Wir sind 16 und wir sind Löwinnen, wir sind über 80 und sprayen an die Wand der Schweizerischen Nationalbank.

Wir, wir sind der Widerstand.

Wir, wir sind die Hoffnung.

Wir, wir sind die Zukunft.

Wir, wir sind die antikapitalistische, antinationalistische, feministische, queere, emanzipatorische Linke. Wir sind die aussenparlamentarische Gruppierung in Bern. Wir sind der Women’s March in Washington und Zürich und jede Journalistin in türkischer Haft. Wir sind Afrin und wir sind Rojava.

Wir, wir sind die 99%.

Wir, wir sind die Töchter der Hexen, die die Patriarchen nicht verbrennen konnten. Wir sind die Söhne der Fabrikarbeiterinnen, die 1918 im Generalstreik unsere Rechte erkämpft haben. Wir sind die Kinder der 68er Bewegung und des Frauenstreiks.

Und wir sind die Eltern der Generation, die diese Welt ein für allemal verändern und dieses System zum Einsturz bringen wird.

Und im Wissen, wer wir sind und was wir alles schon geschafft haben, fordern wir mehr als Lohngleichheit!

Wir fordern Würde, bedingungslos.

Wir fordern Gerechtigkeit, ohne Ausschluss.

Wir fordern Freiheit für alle statt für wenige.

Revolution. Punkt. Schluss.