Kategorien
Gastbeitrag

Vom irr sein

Erschienen im Magazin «doppelpunkt»

Wenn man Zeitungen liest, dann fragt man sich schon manchmal, ob man Kinder in diese Welt setzen will. Ich ertappe mich nicht selten dabei, wie ich mich frage, ob jetzt ich zu empfindlich bin, oder ob die alle spinnen.

Hier meine Tophits der letzten Zeit.

Die 300 reichsten Personen in diesem Land sind letztes Jahr 60 Milliarden Franken reicher geworden. Das ist gleich viel wie das Bundesbudget. Gleichzeitig leben 615’000 Menschen in der Schweiz mit weniger als 2’247.– CHF pro Monat.

Wenn man die zusätzlichen Gewinne der Superreichen auf all diese Menschen verteilen würde, dann erhielten alle rund 98’000.– Franken. Nur so, als Lösungsvorschlag.

Mir ist nicht ganz klar, wieso meine Forderung, das Geld so rückzuverteilen, dass es allen gut geht, als irrer wahrgenommen wird, als der Umstand, dass die einen kaum über die Runden kommen und die anderen kaum noch wissen wohin mit ihrem Geld. Aber eben, ich bin ja angeblich die realitätsferne Utopistin ohne Lösungsvorschläge…

Weiter bei der Hitparade der Dinge, die mich wirklich verwirren:

In der Schweiz werden schätzungsweise 23.5 % der Steuern hinterzogen. Das entspricht in etwa 20 Milliarden – jedes Jahr. Doch wir überwachen lieber vermeintliche IV-Betrüger*innen mit stasiähnlichen Methoden. Das bringt dem Staat wenn es gut geht ganze 170 Millionen. Die Kosten für die Überwachung sind wahrscheinlich höher. Ohne jetzt hier einer Person zu nahetreten zu wollen: Kann mir jemand erklären, wieso genau wir nicht bei den Steuern genauer hinschauen? Bis jetzt hat es noch niemand geschafft. Auch nicht erklärbar ist diese Geschichte hier:

Bundesrat Parmelin will neue Flugzeuge. Obwohl das Volk Nein zum Grippen gesagt hat. Diese Kampfjets kosten viel Geld. Acht Milliarden um genau zu sein. Aber ist kein Problem für uns. Wir haben‘s ja. Ausser für die AHV; und die Prämienverbilligungen; und die Bildung; und die Gesundheit, den Vaterschaftsurlaub, die Lohngleichheit (wait, what?!), ÖV, Naturschutz, etc., etc., etc. Hauptsache Guy hat neue Spielzeuge.

Auch im Bereich Kunst, zeigt sich unsere Gesellschaft von ihrer «besten» Seite:

Ein Rapperduo hat kürzlich den wichtigsten Musikpreis Deutschlands gewonnen. Und zwar mit einem Lied, das antisemitisch ist. Der Preis wurde am Tag vergeben, an dem in Israel den Opfern des Holocaust gedacht wird. Die Rapper sind schon vorher aufgefallen mit geistreichen Texten wie: «Dein Chick ist ‘ne Broke-Ass-Bitch, denn ich f**k’ sie, bis ihr Steissbein bricht». Ich meine geht’s eigentlich noch? Als hätte es Auschwitz nie gegeben…

Ich weiss nicht, was mit der Gesellschaft los ist. Vielleicht war die Gesellschaft auch schon immer so, ich bin mir nicht sicher. Was ich aber weiss, ist, dass es so nicht weitergehen kann und dass es so nicht weitergehen soll. Man muss nicht mit meinen Änderungsvorschlägen einverstanden sein – auch wenn Kapitalismusüberwindung doch einige dieser Probleme lösen könnte.

Aber ich hoffe, Sie stimmen mit mir überein, dass das, was heute passiert, nichts mehr mit Anstand und Respekt zu tun hat. Oder mit Freiheit und Chancengleichheit.

Und, dass es nichts aber auch gar nichts mit der Gesellschaft zu tun hat, in der wir möchten, dass unsere Kinder ihre Kinder aufziehen werden.

Ich will eine Gesellschaft, in der die Menschen frei sind. In der jede*r nach seinen*ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten leben und arbeiten kann. In der alle akzeptiert werden, egal welche Haut- und Passfarbe sie haben, welchem Geschlecht sie sich zuordnen und wen sie lieben.

Sagen Sie mir: Ist das denn wirklich so irr?