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Kolumne

Echte Männer weinen nicht

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 25.11.2018

Warum werden Amokläufe fast nur von Männern begannen? Warum sind es mehrheitlich Männer, die häusliche Gewalt ausüben? Wieso waren 2007 93,4 Prozent (stellt euch vor, eine andere Gruppe wäre statistisch so auffällig!) der Beschuldigten bei schweren Gewaltdelikten Männer? Weil wir ein Männerproblem haben. Durchschnaufen und weiterlesen.

Im englischsprachigen Raum wird von «toxischer Männlichkeit» gesprochen. Das heisst NICHT, dass alle Männer als Individuen giftig sind. Aber wir haben als Gesellschaft bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit, die nicht nur schädlich, sondern gefährlich sind – und zwar für alle Geschlechter.

Männer haben im Schnitt eine tiefere Lebenserwartung, sie haben mehr Unfälle, sie suchen bei psychischen Problemen seltener Hilfe, und sie wählen bei Suizidversuchen «aggressivere» Methoden und haben deshalb eine höhere Suizidrate als Frauen, obwohl sie weniger Suizidversuche begehen. Kurz: Toxische Männlichkeit ist für Männer tödlich.

Wenn Paul im Sandkasten weint, wird ihm gesagt, grosse Jungen weinten nicht. Schlägt er sein Spielgspänli mit einer Schaufel, kommt nur halbherzige Kritik – Jungs sind halt einfach etwas wilder. Das sind kurze Momente, die für sich allein kaum Schaden anrichten würden. Aber wenn diese Form von Männlichkeit immer und immer wieder glorifiziert wird, ist sie der ideale Nährboden für Gewalt. Denn diese Vorstellung von Männlichkeit verhindert, dass Jungen und Männer überhaupt Alternativen zu aggressivem Verhalten oder Gewalt lernen.

Frauen und Männer haben nicht dieselben Probleme. Männer haben kein Problem, weil sie Männer sind. Sie haben immer dann ein Problem, wenn sie nicht diesem toxischen Männlichkeitsideal entsprechen, wenn sie also Gefühle zeigen, sich um Kinder kümmern möchten oder Röcke tragen wollen, wenn sie nicht «männlich genug» sind. Trotz aller Nachteile, die das Patriarchat für Männer bringt, haben Männer als gesellschaftliche Gruppe Macht, Frauen nicht. Männer besitzen einen Grossteil des weltweiten Vermögens und sind überall dort massiv übervertreten, wo Entscheide gefällt werden.

Frauen hingegen werden diskriminiert, weil sie Frauen sind. Wenn wir Gewalt an Frauen effektiv bekämpfen wollen, müssen wir das strukturelle Machtungleichgewicht auflösen. Genau deshalb ist die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen so bahnbrechend. Sie hält fest, dass die ungleichen Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern eine zentrale Ursache von Gewalt gegen Frauen sind und diese wiederum Geschlechterhierarchien aufrechterhalten.

Toxische Männlichkeit ist für Frauen tödlich. Immer wieder bedrohen, verprügeln oder töten Männer ihre Partnerinnen. In der Schweiz alle 25 Tage. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, müssen wir unser Bild von Männlichkeit verändern und Geschlechterstereotypen auflösen: Ich will, dass Männer Lippenstift zur Arbeit tragen können, wenn ihnen danach ist. Ich will, dass Kinder egal welchen Geschlechts im Feenkostüm Fussball spielen dürfen, wenn sie darauf Lust haben. Ich will in Filmen mehr weinende Männer und fluchende Frauen sehen. Ich will, dass alle ohne Gewalt leben können. Gemeinsam.