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Kolumne

Sterben mit Klasse

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 06.01.2019

Ein altes Sprichwort sagt: «Edel, arm oder reich, der Tod macht alle gleich.» Tönt ein bisschen wie ein Happy End, nicht? Der Versuch einer Versöhnung, denn trotz eines Lebens in Ungleichheit sind wir am Ende des Tages (oder des Lebens) alle gleich. Was für eine Lüge! Wann und wie wir sterben und ob unser Tod irgendjemanden interessiert, hängt wesentlich von der Grösse unseres Portemonnaies und unserer Herkunft ab.

In den Industrieländern ist die Lebenserwartung deutlich höher als in den sogenannten «Entwicklungsländern»: Je wohlhabender das Land, desto länger leben die Menschen. So beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung in Monaco 89,5 Jahre – im Tschad 50,2 Jahre.

Aber auch innerhalb der einzelnen Länder gibt es grosse Unterschiede. Der wichtigste Faktor für die Lebenserwartung der Menschen ist das Einkommen: Auch im ärmsten Land werden die Reichen alt. Dieses Phänomen macht keinen Halt vor industrialisierten Ländern. Eine Studie des Versicherungskonzerns Zurich zeigt, dass Arme in Europa durchschnittlich 11 Jahre früher sterben als Reiche.

11 Jahre! Und wir streiten uns darüber, ob es richtig ist, dass Frauen früher pensioniert werden, weil ihre Lebenserwartung höher ist. Eine komische Diskussion in Anbetracht dessen, dass Reiche so viel länger leben, unabhängig des Geschlechts, oder? Angesichts dieser Zahlen wäre es vielmehr angebracht, über ein einkommensabhängiges Rentenalter zu diskutieren: Wer mehr verdient und eine körperlich weniger anstrengende Arbeit hat und somit länger lebt, soll länger arbeiten.

Aber nicht nur zum Zeitpunkt unseres Todes sind wir ungleich. Ob wir elend im Mittelmeer verrecken oder in einem Luxus-Einzelzimmer in einem Hospiz an Altersschwäche schmerzfrei einschlummern, ob wir auf einer Baustelle wegen eines Berufsunfalls ins Gras beissen, durch die Schüsse einer Polizeiwaffe fallen oder im Jemen verhungern – auch das hat mit unserer ökonomischen Klasse und unserer Herkunft zu tun.

Aufschlussreich ist auch, wie über das gewaltsame Ableben berichtet wird. Wenn 20 Leute in Bagdad Opfer eines Selbstmordattentäters werden, dann ist das kaum (mehr) eine Spaltenmeldung wert. Seit Jahren sterben vor unseren Stränden unzählige Menschen. Sie sind namen- und identitätslos, anonyme Gestalten ohne Familie, ohne Träume und ohne Geschichten. Als würde man am liebsten ihre Existenz einfach vergessen.

Wenn aber in den USA ein Amoklauf stattfindet, sind die Zeitungen über Tage voll davon. Auf den Titelseiten wird über die Geschichten der Opfer berichtet. Man erinnert sich an sie, man macht sie zu Menschen. Gleiches gilt, wenn wir den Tod eines Superstars an einer Überdosis mit dem eines Obdachlosen vergleichen. Das eine füllt Zeitungen, das andere interessiert niemanden.

Kurz: Nicht alle Menschen sind es wert, dass man um sie trauert. Reiche weisse Menschen betrauern wir. Arme People of Color vergessen wir am liebsten möglichst schnell. Die krasse Ungleichheit in unserer Gesellschaft zeigt sich auch dort, wo wir angeblich am gleichsten sein sollten. Wenn wir wirklich alle Menschen gleich behandeln wollen, dann müssen wir diese Ungleichheiten beseitigen. Dann muss jedes Leben es wert sein, gerettet zu werden – im Mittelmeer, in jedem Spital, in jedem Krieg. Dafür müssen wir uns über jeden gewaltsamen, verfrühten, unnötigen Tod – egal wann, wo und wie er passiert – empören. Denn die Empörung ist die Quelle jeder Veränderung. Und diese Veränderung brauchen wir.