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Kolumne

Die Pflicht zum Widerstand

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 14.04.2019

Fast 40’000 Menschen starben nach Angaben des Migazin zwischen 2000 und 2018 beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Dieses Jahr sind bereits über 2000 Menschen umgekommen. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat nun die EU vor etwas mehr als zwei Wochen entschieden, dass sie alle Mittelmeermissionen einstellt. Die EU wolle die Schleppertätigkeiten nur noch von der Luft aus beobachten, hiess es. Was das konkret bedeutet: Es gibt kein einziges Rettungsschiff mehr im Mittelmeer. Kein einziges Schiff, das Menschen, die flüchten, helfen könnte. Wir schauen ihnen nur noch beim Massensterben zu – aus der grösstmöglichen Distanz. Bis vor einer Woche hatten diese Menschen kein Gesicht und keine Geschichte. Nun sind sie nicht mal mehr eine Zahl. Wo keine Statistik ist, ist kein Problem.

Das ist das jüngste Kapitel der europäischen Migrationspolitik – und es ist eine Schande. Wir leben heute auf einem Kontinent, auf dem es legitim ist, zu sagen, dass das Ertrinkenlassen von Menschen eine pädagogische Massnahme ist. Das muss man sich schon mal auf der Zunge zergehen lassen, um den bitteren Nachgeschmack ganz auszukosten. Verdaubar ist diese Aussage jedoch nicht. Mitgliedsstaaten der Europäischen Union – die gegründet wurde als Friedensprojekt wohlbemerkt – haben Rettungsaktionen für Flüchtlinge kriminalisiert. Dafür haben der faschistoide Schattenpräsident Italiens, Salvini, und seine Kumpane schon länger gesorgt. Einzig das Alarmphone gibt es noch. Ein Nottelefon, das von Flüchtenden per Funktelefon erreicht werden kann – von wo aus aber kein Schiff mehr alarmiert werden kann.

Das Resultat? Höllen auf Erde. Menschen werden gefoltert, vergewaltigt, verkauft, versklavt. Hoffnungslos, hungernd zu Hunderten. Verletzt, verzweifelt, vergessen. Wenn ich die Bilder dieser Tragödien anschaue, dann fühle ich mich unendlich hilflos. Ich sehe das Elend, die Trauer, den Tod. Und ich frage mich: Was kann ich tun? Was kann ich dem entgegenhalten? Was können wir tun? Gegen das Sterben vor den Stränden, in denen wir diesen Sommer baden gehen?

«Zu sagen, was ist, bleibt die revolutionärste Tat», meinte Rosa Luxemburg vor über 100 Jahren. Es kann und es darf nicht sein, dass wir abstumpfen, dass wir nicht mehr darüber sprechen, dass wir vergessen. 40’000 Menschen. Ilan, Hawi, Everen, Ayana, Aischa. Kinder, Neugeborene, Frauen und Männer. Ihr Tod ist eine Realität. Die Augen zu verschliessen, macht sie nicht weniger real.

Und es ist höchste Zeit, diese Realität endlich zu ändern. Es ist – egal aus welchem politischen Spektrum aus betrachtet – nichts anderes als unmoralisch, unmenschlich und barbarisch. Es ist einer dieser Momente in der Geschichte, auf die man in 50, 60, 100 Jahren zurückschauen wird und sagen wird: «Wie konntet ihr das zulassen? Es passierte doch vor euren Augen.»

Nun, es gab schon immer Menschen, auch in der Schweiz, die sich immer für Menschlichkeit eingesetzt haben. Auch gegen die lauten Hetzer. Auch gegen die Regierung. Seien Sie wie diese Menschen. Verschliessen Sie die Augen nicht. Zeigen Sie mit dem Finger auf Ungerechtigkeiten und sagen Sie, dass es nicht gut ist. Seien Sie pflichtbewusst. Denn wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht (Bertolt Brecht). Zu unserer Pflicht.