Erschienen in der SonntagsZeitung vom 26.05.2019
Unglaublich, aber wahr – in der Schweiz, dem Land, in dem alles reglementiert ist, in dem jede Kuh erfasst wird (und seit letztem Sonntag auch gewisse Waffen) – in diesem Land hat es bis ins Jahr 2019 gedauert, bis wir endlich zuverlässige Zahlen zur Gewalt an Frauen haben. Und diese Zahlen wurden nicht vom Bund erhoben – nein –, sondern von der NGO Amnesty International. So, als wäre die Aufgabe nicht wichtig genug, um von einer staatlichen Institution übernommen zu werden.
Nach dem #MeToo wussten wir vom Ausmass der Gewalt. Wir wussten, dass sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt im Alltag einer jeden Frau präsent sind. Aber ohne statistische Gewissheit kein anerkanntes Problem. Nun haben wir die statistische Gewissheit. Mindestens 800’000 der 3,6 Millionen in der Schweiz lebenden Frauen wurden Opfer von sexueller Gewalt. Nun muss endlich etwas geschehen, um diese Gewaltepidemie gegen Frauen zu stoppen. Klar ist: Ohne Gleichstellung wird es immer Gewalt gegen Frauen geben, es braucht Mittel für die Prävention und für den Schutz. Aber auch bei der Strafverfolgung muss sich einiges ändern.
Denn mindestens 430’000 der in der Schweiz lebenden Frauen hatten Sex gegen ihren Willen – sprich sie wurden vergewaltigt. Denn nichts anderes als eine Vergewaltigung ist es, wenn man Menschen gegen ihren Willen so intim berührt wie irgend möglich. Doch rechtlich gilt nicht jeder ungewollte Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung. Darum wurde zusammen mit der Präsentation der Zahlen auch die Forderung der Revision des Strafrechts lanciert.
Heute will das Gesetz nämlich, dass Sex, der nicht beidseitig gewollt ist, nur dann ein schweres Verbrechen, also eine Vergewaltigung, ist, wenn sich das Opfer wehrt. Und zwar fest. Wenn es das nicht tut, wenn das Opfer lediglich seinen Willen äussert und «Nein» sagt, dann reicht das nicht. Dann handelt es sich unter Umständen nur um sexuelle Belästigung. Was logischerweise zu einem geringeren Strafmass führt – und ein Antrags- und kein Offizialdelikt ist. Dieses Gesetz heisst faktisch, dass der Wille, der von Frauen (heute können in der Schweiz rechtlich gesehen nur Frauen vergewaltigt werden, was wir zu ändern versuchen!) geäussert wird, nichts zählt. Weder während der Vergewaltigung selbst noch danach vor Gericht. Wenn Frauen Nein sagen, zählt das nichts.
Dieser Umstand führt zusammen mit Angst vor Konsequenzen, vor dem Nicht-geglaubt-Werden und Scham dazu, dass lediglich acht Prozent der Frauen sich bei der Polizei melden. Auch darum will man das ändern. Ein Nein soll ein Nein sein. Eine Willensäusserung soll gelten. Und wer den Willen einer Person bricht und sie vergewaltigt, soll dafür zahlen.
Die Gegner dieser Verschärfung sagen, dass eine Änderung zu Falschanschuldigungen führt. Mal davon abgesehen, dass Sexualstraftaten schon heute schwierig zu beweisen sind und der Prozentsatz von Falschanschuldigungen bei zwei Prozent liegt, zeigt diese Gesetzgebung exemplarisch, in was für einem patriarchalen System wir uns eigentlich befinden. Denn die Angst von Männern vor Falschanschuldigung (die statistisch beinahe inexistent ist) wird hier höher gewertet als die Angst der Frauen, sich während einer Vergewaltigung zu wehren, damit ihnen nicht noch mehr Gewalt angetan wird, die Angst von Frauen vor der Stigmatisierung, die Angst vor Frauen, dass ihnen nicht geglaubt wird. Und dem Recht der Frauen, dass ihre Willensäusserung ein Gewicht hat. Denn es muss festgehalten werden: Diese Angst hält Frauen davon ab, Anzeige zu erstatten. Aber offensichtlich nicht Männer, die Frauen zu vergewaltigen.
Wer noch einen Grund zum Streiken braucht am 14. Juni – hier ist also noch einer. Beziehungsweise 800’000. Nieder mit dem Patriarchat!