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Kolumne

Hamsterräder und Kuchenstücke

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 04.08.2019

Wann fühlen Sie sich frei? Wenn Sie wissen, dass die nächste Prämienrechnung Ihnen nicht das finanzielle Genick bricht? Wenn Sie nachts nach Hause laufen können, ohne dass in Ihrem Kopf die Statistik herumspukt, die Ihnen sagt, dass eine von vier Frauen in ihrem Leben sexualisierte Gewalt erlebt? Wenn Sie und Ihr gleichgeschlechtlicher Partner sich am Bahnhof küssen können, ohne dass Ihnen jemand einen Energydrink über den Kopf leert? Wenn Ihr Auto kaputtgeht, ohne das Sie nicht zur Arbeit kommen, und Sie genügend Erspartes auf dem Konto haben, um die Reparatur zu bezahlen?

Freiheit ist heute ein Privileg. Das bürgerliche Freiheitsversprechen ist simpel: Leiste genug, drehe deine Runden im Hamsterrad immer schneller, und wenn du genug schnell rennst, kommst du vielleicht, vielleicht auch irgendwann in den Genuss dieser Freiheit. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Nur wird das für die meisten von uns nie wahr. Am Ende des Tages werden wir zu jenen gehören, die immer weniger Geld im Portemonnaie haben, während eine winzige Elite immer reicher wird. Und wer im falschen Land oder mit der falschen Hautfarbe geboren wurde, hatte eh Pech.

Sie können das jetzt als radikale linke Spinnerei abtun, aber finden Sie es wirklich so abwegig, eine Gesellschaft anzustreben, in der Freiheit kein Privileg für einige wenige bleibt, sondern ein Recht für alle wird? Ökonomisch und gesellschaftlich?

Ökonomische Freiheit heisst, dass alle Menschen gemeinsam über den Wohlstand entscheiden, weil er von uns allen gemeinsam erarbeitet wird. Egal ob Sie Kinder grossziehen, in der Nacht Büros putzen, für eine Firma die Buchhaltung machen oder sich neulich um eine Freundin gekümmert haben, der es gerade nicht gut geht – in irgendeiner Form tragen Sie etwas zur Gesellschaft bei (es sei denn, Sie verdienen Ihr Geld damit, Grosskonzernen bei der Steuerhinterziehung zu helfen, oder produzieren Waffen. Dann ist Ihr Beitrag wohl eher bescheiden). Deshalb sollten Sie mitentscheiden können. Nicht nur über die Grösse des Kuchenstücks, sondern auch darüber, welcher Kuchen gebacken wird und wie die Bäckerei als Ganzes organisiert wird.

Gesellschaftliche Freiheit ermöglicht uns, zu leben, wie wir wollen, wo wir wollen, und zu lieben, wen wir wollen. Das sollte im 21. Jahrhundert längst selbstverständlich sein. Ist es aber nicht. Es fängt damit an, dass Zeitungen Push-Nachrichten verschicken, wenn in einem fünfzehnseitigen Porträt über mich in drei Sätzen meine Beziehung zu einer Frau erwähnt wird, und reicht hin zu Statistiken, bei denen mir kalt wird: Ein Viertel der Transmenschen, die sich an ihrem Arbeitsplatz outen, verlieren deswegen ihren Job. Ist das Freiheit?