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Kolumne

Revolution unter dem Weihnachtsbaum

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 22.12.2019

Am Freitag ging meine erste Session als Nationalrätin zu Ende. Im Bundeshaus steht ein riesiger Weihnachtsbaum, an dem ich jeden Tag mehrmals vorbeilief. Und jedes Mal dachte ich, dass dieser Protz nur schwer davon ablenken kann, dass Weihnachten für viele Menschen eine schwierige Zeit ist: Vielen Familien wird vor Weihnachten besonders schmerzhaft bewusst, wie knapp das Geld ist.

In der Schweiz sind gemäss dem Bundesamt für Statistik 675’000 Personen von Armut betroffen. Das sind 8,2 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung. Als arm gelten übrigens vierköpfige Familien, die pro Monat 3990 Franken zur Verfügung haben. Sie können ja mal ausrechnen, wie viel nach horrenden Mieten, steigenden Krankenkassenprämien, Transportkosten (z. B. zum Arbeitsplatz) und Nahrungsmitteln noch übrig bleibt. Diese 8,2 Prozent sind ein Skandal in einem Land, in dem die 300 reichsten Personen zusammen 702 Milliarden (!) Franken besitzen. Und es wird noch skandalöser: Viele dieser Menschen sind sogenannte Working Poor, also Menschen, die von morgens bis abends schuften, aber trotzdem nicht über die Runden kommen. Das zeigt, dass es eine riesige Kluft gibt zwischen jenen, die für ihr Geld hart arbeiten müssen, und jenen, die sich in ihrem gepolsterten Bürosessel zurücklehnen können und stündlich reicher werden – einfach, weil sie bereits ein gigantisches Vermögen haben.

Wenn ich auf der Strasse oder an Veranstaltungen mit Menschen über dieses Problem rede, höre ich oft: «Aber das Problem ist doch, dass Bevölkerungsgruppe xyz (wahlweise Asylsuchende oder Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger) mit Geld überschüttet werden.»

Das stimmt erstens faktisch ganz einfach nicht. Und zweitens gibt es einen Witz, den ich dann gerne erzähle und den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte: Sitzen ein Milliardär, ein Arbeiter und ein Asylsuchender an einem Tisch. Zwischen ihnen liegen zwölf Weihnachtsguetsli. Der Milliardär schnappt sich elf davon und schreit dem Arbeiter zu: «Pass auf, der Asylsuchende will dir dein Guetsli wegnehmen!» In genau diesem absurden politischen Diskurs drehen wir uns seit Jahrzehnten. Der Kuchen wäre gross genug, doch statt endlich darüber zu reden, wie wir ihn gerecht aufteilen, streiten wir darüber, wer das kleine Stück, das der normalen Bevölkerung übrig gelassen wird, bekommt.

Deshalb wünsche ich mir – wie jedes Jahr – die Revolution unter dem Weihnachtsbaum. Und damit meine ich entgegen gängigen Klischees nicht, dass wir mit Heugabeln zum Bundeshaus rennen. Sondern dass wir unser Wirtschaftssystem endlich so umkrempeln, dass Weihnachten nicht für Hunderttausende Menschen zu einer finanziellen Zerreissprobe wird.