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Kolumne

Liberale auf Abwegen

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 16.02.2020

Es ist ein politisches Erdbeben, das durch Deutschland geht. Seitdem der Liberale Thomas Kemmerich dank der Stimmen der rechtsextremen AfD zum Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen gewählt wurde, überschlagen sich die Ereignisse. In der Folge trat nicht nur Kemmerich wieder zurück – sondern auch die Kanzlerkandidatin und Parteifunktionäre gaben auf.

Viel Lärm um nichts? Im Gegenteil. Die historischen Parallelen zum Aufstieg der Nazis sind unübersehbar. Der begann in den 30er-Jahren auch in Thüringen und auch damit, dass die Nazis zur ausschlaggebenden Kraft für die Regierungsbildung wurden.

Auch nicht von der Hand zu weisen sind die Versuche der AfD, den Nationalsozialismus zu verharmlosen oder sogar zu glorifizieren – man denke nur an das Schwadronieren vom «tausendjährigen Reich» (Björn Höcke, Thüringer AfD-Landeschef). Ihre antidemokratischen, rassistischen, menschenfeindlichen, frauenverachtenden und homophoben Haltungen trägt die Partei heute offen zutage: Die AfD hat sich in den wenigen Jahren, in denen sie politisch Bedeutung erlangte, in erschreckendem Ausmass radikalisiert.

Ausmalen kann man sich daher, was geschehen würde, wenn die AfD, von anderen Parteien hofiert, an die Macht käme. Been there, done that, wie man heute so schön sagt.

«Demokratie!», schrei(b)t die NZZ in einem Kommentar zu den Ereignissen in Deutschland, der munter von FDPlern geteilt wurde. Es gebe «keinen Grund, das Ergebnis moralisch zu verurteilen». Und zeigt so das Stadium der Krise an, in dem die Liberalen in der Schweiz und europaweit angekommen sind.

Denn: Dass es die NZZ nicht schafft – oder nicht schaffen will –, herauszuarbeiten, was das Problem der Wahl in Thüringen ist, ist mehr als bedenklich. Es ist naiv, es ist gefährlich, und es ist nicht zu entschuldigen. Nach dem 2.Weltkrieg wurde klar, dass der Abbau der Demokratie langsam beginnt und dass es für ihre Abschaffung einen geistigen Nährboden braucht. Diesen Nährboden hat die AfD heute wieder bereitet. Und die Liberalen haben von seinen vergifteten Früchten gegessen. Damit rief die (deutsche) FDP unfreiwillig Erinnerungen an ihre delikate Vergangenheit in den 40ern und 50ern wach, als man aktiv um die alten Nazis buhlte, sie freudig in die eigenen Reihen aufnahm und bereits 1949 unter der Fahne des Liberalismus ein Ende der Entnazifizierung forderte.

Ja, wir sind nicht mehr im Jahr 1933, und ja, Geschichte wiederholt sich nicht. Dennoch sollten wir nicht blind gegenüber Strukturen sein und misstrauisch gegenüber Machtgelüsten. Demokratie braucht Bürgerinnen, Bürger und Parteien, die die Menschenwürde anerkennen und verteidigen. Sie braucht die Begegnung zwischen den Menschen, mögen sie auch noch so unterschiedlich sein. Und sie braucht Gewissen und Rückgrat.

«Lieber nicht regieren als schlecht regieren»: Das sollten sich die Liberalen dringend zu Herzen nehmen.

Und die Demokratie schützen, nicht an ihrer Abschaffung mitwerkeln.