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Kolumne

Wer will, der kann

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 15.03.2020

Es herrscht Ausnahmezustand. Im wahrsten Sinne des Wortes: Der Bundesrat hat wegen des Coronavirus die «besondere Lage» ausgerufen. Die Basler Fasnacht wurde abgesagt. Eishockeyspiele finden erst vor leeren Rängen, dann gar nicht mehr statt. Das Bundesamt für Gesundheit hat eine breit angelegte Informationskampagne über richtiges Händewaschen und Social Distancing gestartet. Weltweit werden Städte abgeriegelt und Spitäler aus dem Boden gestampft.

Das ist zweifellos richtig. Beim Coronavirus handelt es sich um einen stark ansteckenden Erreger, der ältere und immungeschwächte Menschen in tödliche Gefahr bringen kann. Deshalb sind wir als Gesellschaft zu Solidarität bereit: Wir nehmen die Absage eines Konzerts unserer Lieblingsband hin, weil wir wissen, dass eine langsamere Ausbreitung des Virus jene schützt, die besonderen Schutz brauchen.

Die Massnahmen, die getroffen werden, haben jedoch einen bitteren Beigeschmack. Sie zeigen, zu was die Welt fähig ist, wenn sie nur will. Das Coronavirus hat ungeahnte Kräfte freigesetzt. Die Politik macht, informiert, spricht Geld, ergreift Massnahmen. Jetzt kann man natürlich über das Für und Wider einzelner Massnahmen streiten, aber niemand hat ernsthaft Zweifel, dass ein entschlossenes und koordiniertes Vorgehen nötig ist.

Warum ist das bei anderen dringlichen Problemen nicht der Fall? Die Klimakatastrophe rast auf uns zu, und wir dümpeln seit Jahrzehnten herum und können uns nicht mal darauf einigen, dass es jetzt vielleicht endlich an der Zeit wäre, unseren Grossbanken und Versicherungen zu verbieten, klimaschädigende Investitionen zu tätigen (kleiner «Fun Fact» am Rande: Der Schweizer Finanzplatz verursacht 22-mal so viele CO2-Emissionen wie alle Haushalte und KMU in der Schweiz zusammen). Jedes Jahr sterben rund 500’000 Kinder an Durchfallerkrankungen, die verhindert werden könnten. Frauen weltweit erleben jedes Jahr Gewalt in einem Ausmass, das als pandemisch bezeichnet werden kann. Warum richten die Medien dafür nicht einen Liveticker ein? Warum gibt es dort nicht bei jedem Todesfall eine Push-Nachricht? In Griechenland ereignet sich gerade eine humanitäre Katastrophe – Flüchtlinge werden von rechtsextremen Banden angegriffen, Lagerhallen von Hilfsorganisationen angezündet, Kinder begehen Suizid. Und die Welt? Die Welt schaut weg und sagt: «Wir können nicht.»

Ich fühle mich angesichts dieses Elends manchmal ohnmächtig. Ich habe das Privileg, im Bundeshaus Politik machen zu können. Und trotzdem kann ich kaum etwas davon verhindern. Manchmal überkommt mich deshalb eine gewisse Resignation, und ich denke, dass die Politik zu träge, zu kompliziert, zu verrostet ist, um effektiv gegen diese Missstände zu kämpfen.

Das Coronavirus zeigt, dass dieses Denken falsch ist. Und gefährlich. Denn die Welt könnte, wenn sie nur wollte. Aber sie will nicht.

Es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe all jener, die von einem guten Leben für alle träumen, sich dafür einzusetzen, dass sie in Zukunft will.