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Kolumne

Würde, bedingungslos

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 26.04.2020

Wäre heute ein normaler Sonntag, würde ich an meinem Schreibtisch sitzen und mir die Haare raufen. Denn ich müsste eine Rede für den 1. Mai – den internationalen Tag der Arbeiter*innnenbewegung – entwerfen. In meiner Rede würde ich von der pensionierten Detailhandelsangestellten sprechen, deren Rente einfach nicht zum Leben reicht. Vom fünfzigjährigen Projektleiter, der wegen der Profitgier seines Arbeitgebers seinen Job verloren hat. Von der jungen Mutter, der das System gerade mit voller Wucht klarmacht, dass die Familienpolitik der Schweiz aus dem Mittelalter stammt. Es wäre eine flammende Rede für einen wichtigen Tag.

Einen Tag, an dem Zehntausende Menschen in der ganzen Schweiz für gute Löhne und Arbeitsbedingungen und Gerechtigkeit auf die Strasse gehen sollten.

Aber heute ist kein normaler Sonntag. Weil dieses Jahr wegen Corona der 1. Mai auf der Strasse nicht möglich ist. Dabei zeigt uns gerade diese Krise, wie wichtig es ist, dass wir über die Kernanliegen der Arbeiter*innenbewegung reden. Darum schreibe ich heute eine 1.-Mai-Kolumne:

Wir fordern Würde, bedingungslos: Die rechtsbürgerliche Mehrheit hat in den letzten Jahrzehnten unser Sozialsystem kaputtgespart. Sie hat jede unter Generalverdacht gestellt, die auf staatliche Unterstützung angewiesen ist, und den Gang durch die Ämter zu einem Spiessrutenlaufen gemacht. Corona macht uns nun mit voller Kraft deutlich: Wir alle können durch die Maschen fallen und von einem Tag auf den anderen in unserer wirtschaftlichen Existenz bedroht sein. Niemand hat es verdient, in einer solchen Situation (oder überhaupt jemals) auf die Gnade eines bürokratischen Apparats angewiesen zu sein. Was wir brauchen, ist ein System, das uns allen ein Leben in Würde garantiert – und zwar bedingungslos.

Wir fordern Gerechtigkeit, ohne Ausschluss: Es ist kein Zufall, dass es in der Corona-Krise als Erstes Regelungen für die Banken, Versicherungen und die grossen Detailhändler gab. Also überall dort, wo teure Lobbyorganisationen im Bundeshaus umherschwirren. Grafikerinnen oder Taxifahrer mussten dagegen über Wochen auf Lösungen warten. Für die Kitas hat der Bund immer noch keine Unterstützung gesprochen, von den Eltern ganz zu schweigen. Corona zeigt einmal mehr: Wir müssen Gerechtigkeit für alle schaffen, ohne Ausschluss. Das gilt für die wirtschaftliche Existenzsicherung genauso wie für Bildung, Pflege und Betreuungsaufgaben.

Wir fordern Freiheit für alle statt für wenige: Gerechtigkeit und Freiheit sind unteilbar! Es ist eine Schande, dass die Schweiz das Asylrecht faktisch ausser Kraft gesetzt hat und sich nicht sofort für die Evakuierung und Schliessung der Flüchtlingscamps einsetzt. Die Arbeiter*innenbewegung ist von Anfang an eine internationale Bewegung gewesen, die verstanden hat, dass es so etwas wie «nationale Solidarität» nicht gibt.

Während sich die Bürgerlichen für den Angriff auf unsere sozialen Errungenschaften formieren, werden wir uns bewusst, dass wir, die Büezerinnen und Büezer, es sind, die Wohlstand schaffen mit unserer Arbeit – nicht Aktionäre. In diesem Selbstbewusstsein stehen wir – Mütter, Kita-Mitarbeiterin, Bauarbeiter, Polymechanikerin, Pflegefachfrau – zusammen, für Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Und holen uns, was uns zusteht.