Erschienen in der SonntagsZeitung vom 24.05.2020
Solidarität ist momentan in aller Munde. Es lohnt sich deshalb, einen genaueren Blick darauf zu werfen: Was ist damit eigentlich gemeint? Und warum sollte man hellhörig werden, wenn plötzlich sogar SVP-Bundesrat Ueli Maurer von Solidarität redet?
Traditionellerweise bildet Solidarität neben Freiheit und Gerechtigkeit das Skelett linker Politik. Solidarität wird definiert als eine Haltung der Verbundenheit mit den Zielen sowie dem freiwilligen Einsatz für gemeinsame Werte gleichgesinnter und gleichgestellter Menschen. Sie entsteht in Gruppen mit ähnlichen sozialen Interessen und verlangt Bindung und Engagement.
Treffend hat es der Philosoph Ludger Hagedorn definiert: «Solidarität beschränkt sich nicht darauf, das Leiden eines anderen Menschen zu reduzieren, weil ich mich selbst irgendwann einmal an seiner Stelle finden könnte; sie ist auch nicht nur ein Mitleiden, das alles erträglicher macht. Solidarität ist eine Haltung, die aus der grundsätzlichen Erfahrung der Verwundbarkeit wächst, und Solidarität ist eine Antwort auf diese Erfahrung, wenn sie das Wagnis eingeht, die gemeinsame Conditio humana (Anm.: menschlich sein) ins Zentrum menschlichen Handelns zu stellen.»
Gelebte Solidarität kann daher nicht an Landesgrenzen aufhören, noch kann sie bequem per Twint überwiesen werden.
Doch genau das propagieren rechte Politiker*innen im Moment: Sie beschwören eine «Solidarität», die von einem Innen und gegen das Aussen lebt. Sie wollen uns weismachen, dass wir Solidarität «mit den eigenen Leuten» brauchen in Abgrenzung zu «den anderen». Das ist Quatsch. Denn sie propagieren so genau das Gegenteil von Solidarität: Konkurrenz gegen andere.
Solidarität bedeutet, uns zu überlegen, wie wir alle gemeinsam aus einer Krise kommen, und zwar vom Restaurantbesitzer in Bern über die alleinerziehende Mutter in Uri über die Sexarbeiterin aus Rumänien, die ohne Papiere hier in der Schweiz lebt, die Familie im Libanon, die sich keinen Zucker mehr leisten kann, bis hin zum Jugendlichen, der seit Monaten in einem menschunwürdigen Flüchtlingscamp in Griechenland festsitzt.
Wenn also Bundesrat Ueli Maurer Ihnen sagt, Sie sollen Ferien in der Schweiz machen, dann hat das wenig mit Solidarität zu tun, aber viel mit der mächtigen Gastro- und Hotellerielobby.
Um bei meiner Boot-Metapher zu bleiben, die ich vor zwei Wochen an dieser Stelle erklärt habe: Solidarität heisst zuerst einmal anzuerkennen, dass wir alle demselben Sturm ausgesetzt sind, aber die einen in Schlauchbooten und die anderen in Jachten.
Rechte Politiker*innen wollen Ihnen gerade weismachen, dass Ihr Schlauchboot fahrtauglicher wird, nur weil Sie ein Loch in das Schlauchboot neben Ihnen pieksen – und das wenige Geld, das Sie noch haben, ein bisschen zwischen den Gummibooten hin- und herreichen.
Solidarität entsteht aber erst dann, wenn die auf dem Gummiboot denen auf den Jachten klarmachen, dass es so nicht weitergehen kann. Wenn sie sich zusammenschliessen und fahrtüchtige Schiffe für alle fordern. Auch für die, die es nicht für sich selbst fordern können – weil es Menschen sind.