Erschienen in der SonntagsZeitung vom 07.06.2020
«Ich wusste gar nicht, dass es in der Schweiz so viele Frauen gibt», sagte mir am 14. Juni 2019 ein Mann und traf damit unbewusst den Nagel auf den Kopf.
In unserer Gesellschaft sind wir Frauen, sind unsere schlecht bezahlte oder unbezahlte Arbeit, unsere täglichen Kämpfe unsichtbar. Wir sind untervertreten an Diskussionsrunden, in den Parlamenten, in den Medien und in der Öffentlichkeit.
An diesem denkwürdigen 14. Juni 2019 nahmen über 500’000 von uns am grössten Streik teil, den es je in der Schweiz gegeben hat. Mütter blockierten mit ihren Kinderwägen die Innenstadt Berns, Töchter tanzten durch Zug und Aarau, Verkäuferinnen blockierten Zürichs Einkaufsmeilen, Pflegerinnen schwenkten Schilder in Lausanne und Neuenburg, Kinderbetreuerinnen projizierten das Frauenstreik-Symbol an den Roche-Turm in Basel, Bäuerinnen machten mal Pause, und Grossmütter sangen im Tessin.
Dennoch werden wir nach wie vor nicht ernst genommen, und man versucht uns unsichtbar zu machen. Oder wie soll man es sich sonst erklären, dass sich ein Jahr, eine nationale Wahlrunde und eine Pandemie später so wenig geändert hat?
Denn obwohl die Bewältigung der Corona-Krise grösstenteils von Frauen geleistet wird und ihre Arbeit kurz so sichtbar war wie selten, haben der Bundesrat und das bürgerliche Parlament kaum mehr als eine Runde Klatschen dafür übrig. Kein Geld. Keine Zeit. Kein Respekt.
Man versucht Tätigkeiten wie pflegen, kochen, putzen, Güter des täglichen Bedarfs verkaufen unsichtbar zu machen – obwohl die Krise uns deutlich zeigt, dass wir genau dies zum Überleben brauchen.
Man versucht unsichtbar zu machen, dass viele dieser Jobs prekär sind und oft von Migrantinnen geleistet werden. Sie arbeiten in Stundenlohnverhältnissen, temporär oder schwarz, und sind bei einer solchen Krise die Ersten, die entlassen werden.
Je unsicherer ihr Aufenthaltsstatus, desto stärker tragen sie die Kosten der Krise auf dem eigenen Rücken. Um den Aufenthaltsstatus nicht zu riskieren, sehen viele von Sozialhilfe ab. Und Sans-Papiers verfügen über gar keine sozialen Absicherungen.
Das Resultat? Unmenschliche Armut. Das passiert, wenn Rassismus und Sexismus sich verschränken.
Geld. Zeit. Respekt – das waren unsere Forderungen vor einem Jahr.
Ein Jahr nach dem Frauenstreik hat sich die Situation kaum und unsere Forderungen nicht verändert – denn unsere Gegner sind mächtig und versuchen uns totzuschweigen. Doch was sich verändert hat, ist das Selbstbewusstsein der feministischen Bewegung.
Wir lassen uns nicht mehr einfach so unsichtbar machen.
Wir gehen nicht mehr weg.
Wir sind nicht mehr still.
Wir sind besser vernetzt, als wir es je waren, wir wachsen weiter und entwickeln uns weiter.
Und für uns ist klar: Wir geben erst auf, wenn alle von uns frei sind. Denn, um hier die schwarze, lesbische Autorin, Aktivistin, Poetin, Mutter, Kämpferin Audre Lorde zu zitieren: «Ich bin nicht frei, solange noch eine einzige Frau unfrei ist, auch wenn sie ganz andere Ketten trägt als ich.»
Unterschätzt uns besser nicht.