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Kolumne

Kinderarbeit wollte man auch nicht abschaffen

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 20.12.2020.

Viele Menschen, die Vollzeit arbeiten, sind von Armut betroffen. Das ist ein Skandal. Höchste Zeit, wieder über einen Mindestlohn zu reden.

Es ist Zeit, endlich wieder mal über Geld zu reden. Konkreter: Löhne. Noch konkreter: tiefe Löhne. Es gehört zu meinen innersten Überzeugungen, dass jeder Mensch zumindest seinen Lebensunterhalt mit seinem Lohn (oder seiner Rente, wenn wir schon dabei sind) bestreiten können muss. Und wir reden hier noch nicht von einem angenehmen oder sogar hohen Lebensstandard, nicht von Sommerferien am Strand, von der teuren Tomatensauce aus dem Delikatessengeschäft oder einem neuen Velo unter dem Christbaum.

Ein Leben in Würde

Wir reden vom grundlegenden, selbstverständlichen Anspruch, sein Leben frei und in Würde leben zu können. Frei davon, sich nächtelang im Bett hin und her zu wälzen, weil die Tochter eine Zahnspange braucht, die man unmöglich bezahlen kann. Frei davon, das jährliche Abendessen zum Hochzeitstag in der Pizzeria um die Ecke absagen zu müssen, weil es einfach nicht drinliegt. In Würde, weil man nicht von einem Amt zum nächsten rennen muss. In Würde, weil einem die Gesellschaft nicht das Gefühl gibt, dass man versagt hat.

Knapp die Hälfte der erwachsenen Menschen in der Schweiz, die von Armut betroffen sind, arbeiten Vollzeit. Das ist unhaltbar.

Löhne und Renten, die diese Freiheit und diese Würde nicht ermöglichen, sind ein Skandal. Die Stimmbevölkerung hat vor ein paar Jahren einen nationalen Mindestlohn abgelehnt. Inzwischen haben aber verschiedene Kantone einen Mindestlohn eingeführt oder sind daran, einen solchen einzuführen. Warum? Weil es anständig ist. Und weil die Statistiken erschreckend sind: Nach Angaben des Bundesamts für Statistik gelten in der Schweiz ca. 8 Prozent der Bevölkerung als arm («arm» orientiert sich dabei an den Richtlinien der Skos). Als «Working Poor» gilt, wer trotz Erwerbsarbeit in einem armen Haushalt lebt. Diese «Working Poor» machen 60 Prozent aller Armutsbetroffenen im Erwerbsalter aus. Wenn man nur die «Vollzeit-Working-Poor» betrachtet, sind es 44 Prozent. Oder anders gesagt: Knapp die Hälfte der erwachsenen Menschen in der Schweiz, die von Armut betroffen sind, arbeiten Vollzeit. Das ist unhaltbar.

Corona-Krise verschärft Prekarität

Gerade die Corona-Krise hat nochmals gezeigt, wie prekär die Situation für viele Menschen ist. Wer in Kurzarbeit ist, erhält nur 80 Prozent des vorherigen Lohns. Wer vorher schon kaum etwas verdiente, hat nun ein ernsthaftes Problem. Dank der SP hat das Parlament zum Glück diese Woche beschlossen, hier wenigstens ein bisschen nachzubessern: Löhne bis zu 3470 Franken werden neu zu 100 Prozent entschädigt. Wer normal 3470 Franken verdiente, erhält im Moment nur noch 2776 Franken. Dank der 100-Prozent-Entschädigung sind es wieder 3470 Franken, es sind neu also 700 Franken mehr im Portemonnaie. Danach geht es anteilsmässig weiter. Wer eigentlich 4000 Franken verdient, hat bei Kurzarbeit dank der neuen Regel 3470 Franken statt 3200 Franken zur Verfügung. Ein extrem wichtiger Schritt.

Gute Argumente gegen existenzsichernde Löhne gibt es wenig. Bei der Abschaffung der Kinderarbeit wurde argumentiert, dass die Wirtschaft kollabieren würde. 150 Jahre später können wir mit gutem Gewissen sagen: Es ist nicht passiert. Zeit also, den Mindestlohn wieder aufs Tapet zu bringen.

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