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Kolumne

Katniss Everdeen und die Stürmung des Capitols

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 16.01.2021.

Der Überfall auf das Parlament in Washington hat auch gezeigt, wie die «liberale Mitte» in der Schweiz den Faschismus verharmlost.

Am 6. Januar fallen weisse Suprematisten ins Capitol in Washington D.C. ein und unterbrechen die Parlamentssitzung. Sie wollen die Bestätigung Joe Bidens als nächsten Präsidenten durch das Parlament verhindern. Es gibt Tote, und die Demokratie in den USA ist an einem Punkt angelangt, an dem plötzlich auch ihr Ende möglich scheint. Als ich die Bilder sah, habe ich im ersten Moment an etwas ganz anderes gedacht: In den weltbekannten «The Hunger Games»-Büchern von Suzanne Collins und den gleichnamigen Verfilmungen gab es das schon mal den Sturm aufs Capitol. Dort ist er ein Moment der Befreiung, der unbändigen Freude: Nach fast 100 Jahren Diktatur durch einen kleine, gnadenlose und selbstherrliche Elite gelingt Katniss Everdeen und ihren Verbündeten die Revolution.

Was sich am 6. Januar in Washington ereignete, war das Gegenteil von Katniss’ Revolution. Es war ein Signal zum gewalttätigen Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten. Trump und seine Anhänger*innen respektierten nicht nur das Wahlergebnis, das Joe Biden und Kamala Harris deutlich zu den Sieger*innen der Wahl machte, nicht. Sie respektierten auch die Dutzenden Gerichtsentscheide zugunsten der beiden nicht. Sie nahmen in ihrem Putschversuch Tote und Verletzte auf allen Seiten in Kauf und hinderten das Parlament, seinen Auftrag zu erfüllen. Trump verachtet jede Institution der Demokratie. Könnte er aussuchen, wäre er per sofort Präsident der USA auf Lebenszeit. Weiss wäre ab sofort wieder die «Herrenrasse» – man sah unter den Capitol-Stürmern Hitlergrüsse und landesweit bekannte Neonazis. Und seine Gegner*innen würden weggesperrt, wenn sie nicht von seinen Paramilitärs vorher gelyncht worden wären.

Verharmlosende Stimmen aus der Mitte

Als wäre das alles nicht schlimm genug, haben es «liberale» Schweizer Politiker*innen tatsächlich geschafft, einen Vergleich zwischen der friedlichen Platzbesetzung des Bundesplatzes in Bern durch Klimaaktivist*innen und dem Gewaltexzess am 6. Januar in Washington zu ziehen.

In ihrem verzweifelten Versuch, die Hufeisentheorie (aka alle Extremismen sind schlimm) zu vertreten und sich als die «vernünftige Mitte» zu inszenieren, verharmlosten sie den Faschismus. Historisch gesehen leider nichts Neues: Wieder wurde damit Gewalt durch Parteien und Politiker*innen, die sich selbst der politischen Mitte zuordnen, verharmlost. Wieder zeigt sich hier exemplarisch, was es braucht, um Faschismus salonfähig zu machen.

Erstens: eine etikettenschwindlerische, selbstherrliche «Mitte», die angeblich die Vernunft gepachtet hat, selber aber mit allen Mitteln soziale Ungleichheit aufrechterhält, auf der ebendieser Faschismus wachsen kann. Zweitens: ein gezieltes Wegschauen oder sogar Befeuern faschistoider Aktivitäten durch dieselben Politiker*innen, die den Feind immer nur links vermuten. Dabei lehrt uns die Geschichte eindringlich, dass neben Linken auch Liberale, Christen und viele, viele andere vom Faschismus tödlich ins Visier genommen werden.

Kein Fussbreit

Der absehbare Überfall aufs Capitol hat die US-Demokratie in ihren Grundfesten erschüttert. Er soll uns eine Warnung sein: Hoffen und kämpfen wir in den USA, in der Schweiz und weltweit für die Demokratie, für den Wandel und dafür, dass es in Zukunft keine Katniss Everdeen braucht, die sich das Capitol wieder zurückholen muss. Kein Fussbreit dem Faschismus!

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