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Kolumne

Krebs lässt sich auch nicht wegwünschen

Erschienen in der Sonntagszeitung vom 14.03.2021

Psychische Erkrankungen werden nach wie vor mit Schwäche und persönlichem Versagen assoziiert. Das ist absurd. Wir müssen die Betroffenen vielmehr besser unterstützen.

Ich habe nächste Woche Geburtstag. Es ist der zweite Geburtstag in Folge, den ich nicht gewohnt unbeschwert mit Freund*innen und Familie feiern kann. Das hat mir nochmals mit voller Wucht klargemacht, dass wir uns bereits ein ganzes Jahr in diesem Ausnahmezustand namens Pandemie befinden. Vieles ist in diesem Jahr zur Normalität geworden. Die Packung Masken auf dem Fliessband beim Einkaufen, der Geruch von Desinfektionsmittel, die leichte Gereiztheit, wenn Leute in einem Zoom-Meeting ihr Mikrofon nicht auf stumm schalten.

An anderes gewöhne ich mich nur schwer. Mir fehlen das spontane Feierabendbier mit lockeren Bekannten, durchtanzte Nächte mit Freundinnen, gemeinsame Abendessen mit der Familie. All das macht mir zu schaffen, aber ich habe das Glück, zu wissen, dass ich das psychisch bewältigen kann. Viele Menschen haben das nicht. Sie leiden in einem Ausmass, das kaum mehr zu bewältigen ist. Sie sind psychisch krank.

Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet

Corona richtet im Moment den Scheinwerfer auf dieses Problem, aber es war lange vorher da. Eine europaweite Erhebung zeigte bereits 2011, dass rund 38% der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens mindestens einmal mit psychischen Problemen konfrontiert sind.

Gerade jetzt, während Corona, sind wir als Gesellschaft darauf angewiesen, dass alle Menschen, die Hilfe brauchen, auch Hilfe erhalten.

Trotzdem werden psychische Erkrankungen nach wie vor mit Schwäche und persönlichem Versagen assoziiert. Wer depressiv ist und nicht mehr aus dem Bett kommt, könnte ja einfach ein bisschen mehr Sport machen. Wer unter einer Angststörung leidet und Mühe hat, überhaupt das Haus zu verlassen, könnte sich ja einfach ein bisschen mehr zusammenreissen. Doch so einfach ist es nicht. Auf «Willenskraft» als Lösung zu setzen, ist etwa ähnlich absurd wie Krebspatient*innen zu sagen, sie sollen sich den Krebs einfach wegwünschen. Wer mit psychischen Problemen zu kämpfen hat, braucht oft professionelle Unterstützung.

Hilfe muss zugänglicher werden

Doch wer den Mut aufbringt, sich endlich Hilfe zu holen, muss mit langen Wartelisten rechnen. Psychotherapien werden von Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen angeboten. Beide Berufsgruppen haben lange, anspruchsvolle Ausbildungen hinter sich und sind gleichermassen für diese Aufgabe qualifiziert. Trotzdem werden nur Therapien bei Psychiater*innen von der Krankenkasse bezahlt. Jene von Psychotherapeut*innen nur dann, wenn sie bei Psychiater*innen angestellt bzw. «delegiert» sind.

Weil es aber viel zu wenig Psychiater*innen gibt, führt das zu einem Flaschenhals. Es braucht deshalb einen Systemwechsel. Das hat sogar der Bundesrat anerkannt und wollte per Ende 2020 ein neues, besseres Modell einführen. Bisher ist das noch nicht passiert. Doch die Zeit drängt. Gerade jetzt, während Corona, sind wir als Gesellschaft darauf angewiesen, dass alle Menschen, die Hilfe brauchen, auch Hilfe erhalten. Finanziell einerseits, emotional aber auch. Sonst werden wir noch jahrzehntelang mit den Folgen zu kämpfen haben.

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