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Kolumne

Lieber anonymer Mann…

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 28.03.21.

Frauen fühlen sich nicht sicher. Damit sich das ändert, müssen Männer ihr Verhalten ändern. Auch jene, die das Problem nicht bei sich orten.

Diese Woche sind die Zahlen der Kriminalstatistik rausgekommen. Die Gewalt gegen Frauen und Kinder hat im Jahr 2020 zugenommen. Mindestens 14 Vergewaltigungen pro Woche, mindestens 22% mehr Tötungsversuche im Bereich häusliche Gewalt, jede zweite Woche eine Tötung. Opfer davon sind zum allergrössten Teil Frauen.

2021 hat nicht besser begonnen. In den letzten elf Wochen wurden in der Schweiz zehn Frauen getötet. Ermordet – von ihren Partnern oder Ex-Partnern. Femizide, also Morde an Frauen, die getötet wurden, weil sie Frauen sind, sind aber nur die Spitze der Gewaltepidemie, die Frauen erleben. Sexuelle Belästigung, sexualisierte Gewalt, Diskriminierung – all das gehört zum Alltag von Frauen. Frauen sind und fühlen sich nicht sicher in unserer Gesellschaft.

Und was ist deine Antwort im Netz, lieber anonymer Mann? #notallmen.

Ich will dir erklären, anonymer Mann, wieso ich die Wut, die mich erfasst bei diesem Satz, fast nicht aushalte.

Es sind nicht alle Männer. Aber es sind genug Männer. Genug Männer, die uns Gewalt antun oder angetan haben, dass wir mit unserem Schlüssel zwischen den Fingern nach Hause laufen, flache Schuhe zum Rennen dabeihaben, keine Musik hören, wenn wir alleine sind, damit wir die Gefahr hören, wenn sie kommt. Wir lassen uns von Freundinnen orten, telefonieren, tun so, als würden wir telefonieren.

Es ist ein bisschen wie Corona – nicht jeder Mensch, den du triffst, ist eine reelle Gefahr – dennoch schützen wir uns, weil es eine sein könnte.

Es sind genug Männer, dass wir uns nicht so anziehen, wie wir möchten, nicht tanzen, wie wir möchten, dass wir zum Teil gar nicht erst hingehen und schon gar nicht allein. Wir sind in unserer Freiheit eingeschränkt, weil wir Angst haben müssen vor Übergriffen, Gewalt, Belästigung, Drohung. Es ist ein bisschen wie Corona – nicht jeder Mensch, den du triffst, ist eine reelle Gefahr – dennoch schützen wir uns, weil es eine sein könnte.

Verstehst du, wieso ich wütend werde, wenn solche Berichte, solche Zahlen, solche harten Fakten bei Männern wie dir nichts anderes auslösen als die Verletzung deines Egos? Wie kannst du als einzige Reaktion sagen: Ja, aber ich war es nicht.

Lieber anonymer Mann, was erwartest du von uns? Dass wir klatschen, weil du niemanden vergewaltigt, belästigt oder getötet hast? Weil du Frauen als fühlende Wesen mit Respekt behandelst?

Nimmst du dich wirklich zurück? Fragst du nach dem Ja? Akzeptierst du das Nein? Gehst du nie zu weit?

Wir kämpfen um unsere Freiheit, um unsere Sicherheit, zum Teil um unser Leben – und du fühlst dich angegriffen, weil wir auf den Fakt hinweisen, dass der Grossteil der Gewalt in dieser Gesellschaft von Männern ausgeht?! Und ja, bevor du mir eine Mail schreibst, es gibt Männer, die erleben auch Gewalt. Statistisch gesehen durch andere Männer. Und ja, wir müssen das Problem gemeinsam lösen und nicht gegeneinander.

Dann tu endlich was Sinnvolles dagegen! Trägst du wirklich alles, was du kannst, zur Gleichstellung bei? Weil, das ist die beste Waffe gegen Gewalt an Frauen. Unterstützt du deine Mitarbeiterinnen, greifst ein, wenn andere sie belästigen, übergehen, unterbrechen? Erziehst du deinen Sohn dazu, Mädchen nicht zu belästigen? Nimmst du dich wirklich zurück? Fragst du nach dem Ja? Akzeptierst du das Nein? Gehst du nie zu weit?

Und ja, anonymer Mann, vielleicht bist du ein grundanständiger Kerl und machst wirklich vieles richtig. Aber du hast sicher Freunde, Verwandte, Söhne, Väter, Vorgesetzte, Arbeitskollegen, die das nicht tun. Wie wäre es, wenn du gegen sie vorgehen würdest, statt uns zu sagen #notallmen?

Dann klatschen wir, versprochen.

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