Erschienen in der SonntagsZeitung vom 25. April 2021.
Das Bundesgericht hat entschieden: Nach einer Scheidung soll jede*r grundsätzlich für sich selbst sorgen. Das ist nicht so modern, wie es scheint – sondern realitätsfremd.
Das Urteil des Bundesgerichts zum Scheidungsrecht wird gerade als «modern» gefeiert. Dabei geht es im Wesentlichen darum, «dass die Ehe nicht mehr als Versorgungsinstitution gesehen wird. Sondern es wird an die finanzielle Eigenverantwortung von Partner und Partnerin appelliert, die vor allem dann aktuell wird, wenn die Ehe zu Ende geht», wie die Rechtsprofessorin Andrea Büchler dem SRF erklärte.
Die «klassische» Hausfrau will man nicht mehr. Zudem sei es nicht richtig, dass die ehemaligen Ehemänner all ihr Geld hinblättern müssten, damit ihre Ex-Frauen ihre Beine hochlagern können und nie mehr zu arbeiten brauchen.
So viel zum Mythos. Wenden wir uns der Realität zu.
Hohes Sozialhilfe-Risiko für geschiedene Frauen
Fakt ist: 60% der Menschen, die sich in der Schweiz scheiden lassen, können es sich eigentlich überhaupt nicht leisten. Das Geld reicht schon während der Ehe, mit einem gemeinsamen Haushalt, kaum, um über die Runden zu kommen. Bei einer Scheidung sinkt die Lebensqualität aller Beteiligten. Da wir in der Schweiz keine Teilung der Unterdeckung kennen, muss, bei knappen Verhältnissen, die schwächere Seite – und das ist die, die Kinder betreut – aufs Sozialamt. Das sind meist Frauen.
Heute ist das Risiko von geschiedenen Frauen, Sozialhilfe beantragen zu müssen, dreimal höher als bei geschiedenen Männern. Mit diesem Bundesgerichtsentscheid wird diese Situation noch weiter verschärft.
Halten wir uns also auch hier, wie bei allen Themen, an die Statistiken und nicht an anekdotische Evidenzen à la «Ich habe einen Freund, und bei dem ist das anders».
Ungleiche Verteilung unbezahlter Haus- und Sorgearbeit
Wer übernimmt die Arbeit im Haus, wenn Frauen ihre Erwerbspensen erhöhen? Die Männer? Davon sind wir in der Schweiz weiter weg als von der Erfindung einer Zeitmaschine.
Jetzt kann man sagen: Na gut, Frauen (es sind statistisch gesehen Frauen!) sind selber schuld, wenn sie während der Ehe nicht oder nur reduziert einer Erwerbsarbeit nachgehen – und nach einer Ehe können sie einfach irgendeiner Arbeit nachgehen.
Aber auch das entspricht einfach nicht der Realität, sondern einer Wunschvorstellung. Frauen übernehmen heute den grössten Teil der unbezahlten Haus- und Betreuungsarbeit, und sie sind gleichzeitig oft (Teilzeit-)erwerbstätig. Wer übernimmt die Arbeit im Haus, wenn Frauen ihre Erwerbspensen erhöhen? Die Männer? Davon sind wir in der Schweiz im Moment weiter weg als von der Erfindung einer Zeitmaschine. Kitas können einen Teil der Arbeit übernehmen – aber längst nicht alles und oft zu einem hohen Preis. Es wäre gescheiter und gerechter, diese Rahmenbedingungen zu verbessern, als den Frauen vorzuschreiben, was sie in einer eh schon schwierigen Lage zu tun haben.
Weiter trägt dieses Urteil dem Umstand, dass jemand mehrheitlich zu Hause bleibt und die unbezahlte Care-Arbeit leistet, selbst wenn dem eine gemeinsame Entscheidung zugrunde liegt, überhaupt keine Rechnung. Denn nur eine Partei trägt die Konsequenzen dieser Entscheidung.
Alles andere als ein «modernes» Urteil
Und last but not least: Dieses Urteil wertet die Arbeit, die gerade von Frauen im Haushalt und bei der Kindererziehung geleistet wird, weiter ab. Nicht nur wird sie nicht bezahlt, ist kaum relevant für die Rentenbildung und wird für die berufliche Laufbahn als Makel statt als Ressource angesehen – sondern sie zählt auch nach einer Scheidung nicht mehr. Obwohl es ohne diese Arbeit gar keine Familie geben könnte – und auch keine berufliche Karriere von Vätern. Doch diese Realität hat in der Rechtsprechung des Bundesgerichts überhaupt keinen Platz gefunden.
Was die sieben Herren Richter aus FDP, CVP und SVP, die zwischen 59 und 67 Jahre alt sind, entschieden haben, zeugt daher herzlich wenig von «modern» und sehr fest von «realitätsfremd».
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