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Blog Kolumne

«Es esch alles so schnäll gange, ha i däm Momänt nüt me checkt»

Ein Gespräch mit John (20) über den Moment seiner Ausschaffung, aufgeschrieben von einer Aktivistin des Migrant Solidarity Networks. Auch als Kolumne erschienen in der SonntagsZeitung vom 18.07.2021.

«Um drei Uhr nachts kamen sie plötzlich in meine Zelle. Gefühlt 10 Personen, ich weiss nicht mehr, wie viele es wirklich waren. Sie weckten mich auf. Ich wusste zuvor von nichts. Sie zwangen mich in eine Art Sack, der von den Füssen bis zu den Schultern reichte, dann haben sie mich mit einem Seil gefesselt. An den Füssen, an den Händen, am Rücken. Drei Securitas hielten mich, damit ich nicht fiel. Da drin chaschdi ned bewege. Chasch ned mal laufe. Nume stah. Über den Kopf stülpten sie mir einen Helm, so einen ähnlichen wie Menschen zum Boxen tragen. Der kam bis zum Kinn und auf der Seite bei den Backen kam er bis vorne, auch bis zu den Augen runter, bis zum Hals. Halt so wie beim Boxen.

Die anderen packten währenddessen meine Kleider. Ich durfte nichts selbst packen, sie liessen mir keine Zeit dafür. Und sie haben mir nicht einmal all meine Sachen mitgegeben. Weisst du, ich hatte beispielsweise drei Paar Schuhe. Sie gaben mir nur ein Paar mit. Briefe und Dokumente, die ich bei mir hatte, haben sie alle bei sich behalten. Briefe, die ich von meinen Freunden bekommen habe oder von Katrin, all diese Briefe haben sie mir nicht mitgegeben. Mein Handy durfte ich bereits im Knast nicht mehr haben, das ist immer noch bei einem Freund zu Hause.

Sie brachten mich raus aus der Zelle, drei Securitas führten mich zum Flughafen. Dann im Flugzeug waren wir insgesamt nur fünf Menschen, also ‹Passagiere›, ansonsten nur Securitas und ein Notfallarzt. Der konnte Medis geben. Es esch alles so schnäll gange, ha i däm Momänt eifach nüt me checkt.

Weisst du, es ist schwierig, zurückzudenken. Es tut immer noch sehr weh, mich daran zu erinnern. Immer noch kommt das Erlebte in meinen Träumen. Auch am Tag denke ich ständig daran, oder an die Zeit im Gefängnis und meine jetzige Situation. Manchmal wünsche ich mir, man könnte bei mir wie bei einem Handy einfach die SIM-Karte rausnehmen, damit es einfach mal leer wäre in meinem Kopf, ich eine Pause hätte von all dem Erlebten.»

Entrechtung, Ausgrenzung, Haft und Ausschaffung

John wurde nach Nigeria ausgeschafft. Mit einem Level-4-Sonderflug. Grund für die Abschiebung: ein negativer Asylentscheid. Er ist 20 Jahre alt, kam ursprünglich mit 14 Jahren in die Schweiz und hat sein letztes Jahr, sein 19. Lebensjahr in Ausschaffungshaft verbracht. Ein Mensch, der ein ganzes Jahr seiner Jugend im Knast, wie er sagt, verbrachte! «Du gsehsch so vell Scheiss im Knast. Es esch wie, du besch i dere Wält, aber du besch ned i dere Wält.» Über eine Freundin, die ihn zwei Mal wöchentlich im Gefängnis besuchen kam sagt er: «Sie esch de Grund gsi, werom i i däm Gfängnis überläbt ha.»

John wurde nach Nigeria ausgeschafft, obwohl er bis zu seinem 12. Lebensjahr in Äquatorialguinea aufgewachsen ist, wo seine Mutter immer noch lebt. Sein Vater stammt aus Nigeria, dieser ist jedoch seit vielen Jahren in der Schweiz und hat hier eine neue Familie gegründet. Was also sollte John in Nigeria? In beiden Ländern ist er nicht mehr zu Hause. Sein Zuhause ist die Schweiz, seine Freund*innen sind in der Schweiz. Er versucht nun, seine Mutter in Äquatorialguinea zu besuchen. Ebenfalls ein erschwertes Unterfangen, da die Schweiz ihn ohne seinen nigerianischen Pass ausgeschafft hat. Jetzt kann er Nigeria nicht verlassen, bis sein Vater ihm den Pass schickt. Doch der Plan, seine Mutter zu besuchen hält ihn aufrecht, in einer Situation, in welcher er nicht viele Optionen sieht.

«Hie chani ned vell mache, weisch. I checke nüt hie. I kenne niemr ussr min Cousin.» Zu den Menschen, mit denen ich vor sechs Jahren hier in Nigeria in der Schule war, habe ich schon lange keinen Kontakt mehr. «Weisch i weiss gar ned genau wie’s hie funktioniert zum neui Kontakt chnüpfe. Das esch hie ganz angers als ir Schwiiz. Und när din Körper, din Kopf. Er wett das au gar ned emol, esch eifach ke Energie ume.» Als John über seinen Alltag spricht meint er: «Ehrlich, es esch besser tot zsii, als hie läbe. Wel hie gets nüt.» «Chli Hoffnig ufnes bessrs Läbe amne angere Ort, das esch de Grund werom i no am Läbe be. Wenni die Hoffnig nüm ha, esch es verbi.»

Über die Situation jetzt nach der Abschiebung sprechend sagt John: «Weisch, ich be eifach nur verletzt, nur müed, kei Hoffnig meh.» Das Asylregime hat diesen jungen Menschen durch juristische Entrechtung, soziale Ausgrenzung, Haft und schliesslich Ausschaffung immer wie mehr zermürbt, immer wie mehr Energie und Hoffnung gestohlen. Er wird weiterkämpfen, er ist stark. Unglaublich stark, alleine durch all das, was er in seinem jungen Leben bereits (üb)erlebt hat. Als ich John den Text zeige, fügt er an: «Velech hani vell scho überläbt, aber i be emr no eifach am überläbe. Weisch, jetzt eschs meh denn je en Kampf ums Überläbe.»

Hier geht es zur Website des Migrant Solidarity Networks.