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Kolumne

Das Sexualstrafrecht entmystifizieren

Erschienen in der Sonntagszeitung vom 10. Oktober 2021.

Über Vergewaltigungen gibt es viele Mythen, die von sexuellen Stereotypen gespeist werden. Höchste Zeit, damit aufzuräumen.

Das Sexualstrafrecht liegt immer noch in der Rechtskommission des Ständerats, dem Chambre de Réflexion des Parlaments. Doch in diesem Fall muss die Rechtskommission des Ständerats, wenn sie sich über das Sexualstrafrecht beugen wird, auch ein Chambre de Selbstréflexion sein. Denn unsere Gesellschaft ist geprägt von Vergewaltigungsmythen. Wenn wir eine Revision des Sexualstrafrechts wollen, die den Opfern endlich gerecht wird, müssen wir uns dessen bewusst werden, wir müssen diese Mythen dekonstruieren und ihnen Realitäten, Statistiken, Erkenntnisse aus der Neurologie entgegenhalten.

Beginnen müssen wir damit, wahrzuhaben, dass die meisten Vergewaltigungen nicht auf offener Strasse, nachts im Park verübt werden. Vergewaltigungen werden vor allem von Menschen begangen, die die Opfer zum Teil schon lange kennen. Menschen, denen die Betroffenen vertrauen.

Menschen, denen wir vertrauen. Es gibt 430’000 Vergewaltigungsopfer in der Schweiz. Das heisst, es gibt auch 430’000 Täter:innen. Vergewaltigungen sind normalisiert in unserer Gesellschaft. Sich das einzugestehen ist schwer. Aber das müssen wir. Für die Opfer. Denn ihnen muss das Strafrecht gerecht werden.

Die mächtigste Waffe des Patriarchats

Genau darum müssen wir verstehen, dass wir heute die Schuld beim Opfer suchen, wenn wir von Sexualdelikten reden. Jede:r von uns fragt sich nämlich bei jedem Fall: Wieso hat sie sich nicht gewehrt? Wieso hat sie nicht geschrien? Wieso hat sie nicht zugebissen? Wieso ist sie mitgegangen? Ich hätte anders gehandelt. Aber auch: Dieser riesige Typ soll vergewaltigt worden sein?

Wir haben klare Vorstellungen davon, wie sich Opfer zu verhalten haben. Vor, während und nach der Tat. Wie Opfer auszusehen haben. Welches Geschlecht, welches Alter, welche Hautfarbe sie haben. Das alles ist in unseren Köpfen. Was in unseren Köpfen ist, stammt aber häufig aus Filmen, Büchern und sexistischen Stereotypen. Nicht aus der Realität.

Auch unser Sexualstrafrecht ist geprägt von diesen Vergewaltigungsmythen: Wer sich nicht körperlich wehrt gegen seinen Angreifer, der wurde nach heutigem Recht nicht vergewaltigt. Obwohl die Neurowissenschaft uns sagt, dass es eine normale körperliche Reaktion auf eine Gefahrensituation ist, sich nicht mehr bewegen und nicht mehr wehren zu können.

Die Aufgabe des Ständerats

Selbst wenn dem nicht so wäre: Wieso müssen wir uns wehren, wenn uns Unrecht angetan wird, damit es als Unrecht anerkannt wird? Und wieso ist das nur bei Sexualdelikten so?

Weil da der grösste aller Mythen mitschwingt: «Was, wenn sie gelogen hat?» Eine der mächtigsten Waffen des Patriarchats. Die sexistische Annahme, dass Frauen rachsüchtig sind, Männer zerstören wollen. Obwohl es nicht zu mehr Falschanschuldigungen bei Sexualdelikten kommt als bei anderen Delikten.

Was aber resultiert aus diesen Mythen? Nur 8 Prozent der betroffenen Frauen melden den sexuellen Übergriff. Es ist die Aufgabe des Ständerats, über solchen Mythen zu stehen und die Wissenschaft höher zu werten als Gefühle und Vorstellungen. Und so den Frauen das Vertrauen in das Rechtssystem dieses Landes zurückzugeben. Denn diese 8 Prozent heissen nichts anderes, als dass Frauen diesem Rechtssystem nicht vertrauen. Das sind harte Fakten.