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Kolumne

Lösungen statt Klicks

Erschienen in der Sonntagszeitung vom 6. November 2021.

Wer über häusliche Gewalt reden will, muss Gewalt verstehen. Polemik hilft da nicht weiter, konkrete Hilfsangebote hingegen schon.

Jedes Mal, wenn geschlechterspezifische Gewalt zum Thema wird, scheint es, als hätte man zwei Möglichkeiten. Man kann über Lösungen reden mit Expert:innen und Menschen an der Front, die sich zum Teil seit Jahrzehnten mit dem Thema auseinandersetzen. Oder man kann diesen Expert:innen pauschal vorwerfen, sie seien undifferenziert und sie liessen Opfer von häuslicher Gewalt gar im Stich – wie das SonntagsZeitung-Journalistin Bettina Weber unlängst in dieser Zeitung getan hat.

Stein des Anstosses: Die SP (und ich im Speziellen) mache zu wenig gegen die Ausländer, wenn es um geschlechterspezifische Gewalt geht, und masse sich an, zu sagen, es sei ein Männer- oder gar ein Gesellschaftsproblem. Statistik spiele dabei, so Weber, keine Rolle.

Ein Blick auf die Zahlen

Dass dies vor dem Hintergrund, dass 100% der Femizide von Männern ausgeübt werden, eine absurde Aussage ist, scheint viele Kommentator*innen der Ereignisse der letzten Wochen nicht zu stören. Dass die Grundlage der von der Schweiz ratifizierten Istanbul-Konvention – dem relevantesten internationalen Abkommen gegen häusliche und geschlechterspezifische Gewalt – die Anerkennung von Gewalt gegen Frauen als strukturelles Phänomen sowie als sozialer Mechanismus ist, auch nicht.

Wenn jede zweite Frau in der Schweiz bereits sexualisierte Gewalt erlebt hat und wenn die Statistik zeigt, dass von der aktuellen Wohnbevölkerung unglaubliche 430’000 Frauen in diesem Land bereits mindestens einmal vergewaltigt wurden, dann frage ich mich: Warum in aller Welt soll es falsch sein, von einem gesamtgesellschaftlichen, strukturellen Problem zu sprechen?

Jeder Mensch, der sich wirklich mit geschlechterspezifischer Gewalt auseinandergesetzt hat, weiss, dass die einzig richtige Antwort auf die Frage nach den Ursachen diese ist: Es gibt keine einfachen Antworten.

Lösungen statt Polemik

Wer aber uninformiert und polemisch schreit, es sei besonders ein Migrantenproblem, hat – gelinde gesagt – keine Ahnung von der Thematik und sucht auch keine Lösungen. Denn wer das sagt und schreibt, lagert das Problem aus. Externalisiert es. Und gestattet der Gesellschaft einmal mehr, keine Verantwortung zu übernehmen.

Der einzig richtige Weg ist, sich vor jedes Opfer zu stellen – egal, welche Passfarbe der Täter hat. So, wie das die SP auch macht. Statt Prävention als «wolkigen» Idealismus abzutun, wäre es gut, nicht nur die Statistiken der Gewalttäter nach Passfarbe anzuschauen. Sondern auch die Statistiken, die zeigen, dass die Absolventen eines Täterprogramms – um ein Beispiel zu nennen – kaum mehr wieder gewalttätig werden, hingegen bei den Nicht-Absolventen die Rückfallquote bei 11% liegt. Und dann beleuchten, dass diese präventive Täterarbeit massiv unterfinanziert ist (in Bern gibt es eine 20%-Stelle – für den ganzen Kanton), unzugänglich und in zu wenigen Sprachen angeboten wird.

Wichtig wäre, dass Informationen sowie Hilfsangebote in unterschiedlichen Sprachen und Medien diskriminierungsfrei zugänglich sind, wie das der Artikel 4 der Istanbul-Konvention verlangt – was die SP vor kurzem in einem Vorstoss gefordert und erhalten hat. Was es braucht, sind mehr Schutzplätze, eine Verbesserung der Situation von geflüchteten Frauen, Zugang zu Opferhilfe für Opfer von Gewalt aus dem Ausland und vieles mehr – drakonische Strafen schützen niemand.

Wer über Gewalt reden will, muss Gewalt verstehen. Nicht einfach billige Polemik betreiben. Die bringt vielleicht Klicks, aber keine Resultate.

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