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Kolumne

430’000

Erschienen in der Sonntagszeitung vom 25. April 2022.

Zwölf Prozent aller Frauen in der Schweiz sind schon einmal vergewaltigt worden. Warum wird dagegen nicht endlich ernsthaft etwas unternommen?

430’000 – was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie diese Zahl sehen? Welche Assoziationen haben Sie dabei? Sagt Sie Ihnen etwas? Wenn nein, sind Sie leider bei weitem nicht allein. Doch ist es eine Zahl, die wir alle kennen sollten. Eine Zahl, die so beschämend, tragisch und erschreckend ist, dass wir alle wissen sollten, was sie bedeutet. Und dennoch weiss es fast niemand.

430’000 ist die Anzahl Frauen in der Schweiz, die laut einer Studie von Amnesty International aus dem Jahr 2019 bereits einmal in ihrem Leben vergewaltigt wurden. Unglaublich, nicht? Das sind 12% aller Frauen in der Schweiz.

Wenn ich diese Zahl höre, frage ich mich ernsthaft, wieso nicht mehr gemacht wird. Wieso gibt es keine Taskforce, die sich damit auseinandersetzt? Wieso gibt es keine Kampagnen dagegen? Wieso gibt es kaum Präventionsmassnahmen? Wieso gibt es keine anständig finanzierten Programme, um das zu beseitigen? Wieso wird nichts dagegen unternommen, dass gerade mal 8% (acht Prozent!) dieser Fälle angezeigt werden? Wieso ist es nicht dauernd Thema in der Öffentlichkeit?

Wieso wird es nicht ernst genommen? Wieso zählt das Recht von Frauen auf sexuelle Selbstbestimmung so wenig? Wieso müssen wir erst dafür kämpfen, dass das überhaupt strafbar wird? Wieso übernimmt niemand Verantwortung?

Wieso schreiben wir nicht ins Gesetz, was ins Gesetz gehört? Nämlich den einfachen Grundsatz, dass eine sexuelle Handlung ohne Zustimmung als Vergewaltigung bestraft werden soll.

Der Bundesrat hat letzte Woche entschieden, der Rechtskommission des Ständerates zu folgen und das Sexualstrafrecht so zu revidieren, dass für das Anerkennen einer Vergewaltigung keine körperliche Gegenwehr mehr nötig ist. Klar, das ist eine Verbesserung gegenüber der aktuellen Gesetzeslage. Aber die sexuelle Selbstbestimmung wird damit noch nicht genügend geschützt. Nach wie vor ist die Frage, was das Opfer gegen den Übergriff gemacht hat. Nach wie vor liegt die Verantwortung beim Opfer, sich zu verteidigen, «Nein» zu sagen, zu widersprechen.

Wieso wird selbst vor Gericht nicht der Täter für den Übergriff verantwortlich gemacht? Wieso schreiben wir nicht ins Gesetz, was ins Gesetz gehört? Nämlich den einfachen Grundsatz, dass eine sexuelle Handlung ohne Zustimmung als Vergewaltigung bestraft werden soll. Was ist so schwierig, so kontrovers daran?

Wieso übernimmt der Bundesrat nicht endlich Verantwortung?

Wir haben als Gesellschaft die Aufgabe, für die Sicherheit unserer Mitglieder zu sorgen. Es ist unsere Verantwortung, Menschen vor Gewalt zu schützen und, wenn das nicht gelingt, Verantwortung zu übernehmen. Wir dürfen diese 430’000 Frauen nie vergessen, wir müssen sie ernst nehmen und dafür sorgen, dass diese Zahl nicht noch mehr steigt.

Diese Verantwortung muss nun das Parlament übernehmen, indem es eine Revision des Sexualstrafrechts verabschiedet, die auch tatsächlich Selbstbestimmung ins Zentrum stellt und Täter in die Verantwortung nimmt.

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