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Kolumne

Von Gefühlen, zielführenden Massnahmen und Verantwortung

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 22. Mai 2022.

Höhere Strafen für Vergewaltiger und Gewalttäter können zwar die Wut der Opfer von sexualisierter Gewalt lindern. Doch die Höhe des Strafmasses hat keine präventive Wirkung.

Ich habe oft mit Opfern von Gewalt zu tun. Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, die vergewaltigt, ausgebeutet, geschlagen wurden. Viele dieser Frauen sprechen mich im Alltag an und erzählen mir ihre Geschichte. Oft ist es das erste Mal, dass sie davon erzählen.

Wenn eine neunzehnjährige Frau mir erzählt, dass sie von ihrem Stiefvater missbraucht wurde und ihre «feministische» Mutter sie vor die Tür gestellt hat, als sie es ihr erzählt hat, wenn junge Frauen mir berichten, wie sie Angststörungen und kaum Selbstvertrauen haben wegen eines Ex, der ihr Nein nicht akzeptierte, wenn ich von älteren Frauen höre, die einmal durch die Hölle und zurück mussten, um aus einer toxischen, gewalttätigen Ehe auszubrechen – dann macht mich das unendlich wütend.

Doch Wut ist nicht, was diese Menschen brauchen. Wut kann und soll ein Antrieb sein, um zu handeln – aber die Handlung an sich muss mit kühlem Kopf passieren. Doch wenn ich mir anschaue, welche Politik im Moment im Bereich der häuslichen, sexualisierten und geschlechterspezifischen Gewalt betrieben wird, dann frage ich mich schon, ob wir uns wirklich an die Fakten halten oder nur von Wut geleitet werden. 

Einmal mehr wird über höhere Strafen für Vergewaltiger und Gewalttäter diskutiert. Das tönt auf den ersten Blick unglaublich gut, denn es lindert unsere Wut. Zudem – so das Argument von rechts – dient es der Abschreckung.

Was eine Wirkung hat, ist die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden.

Dieses Argument ist so alt wie der Rechtsstaat – und gefühlt ebenso alt sind die Beweise, dass es nicht stimmt. Denn wenn es so wäre, dass die Höhe des Strafmasses eine präventive Wirkung hätte, würde es ja reichen, alle Gewalttaten mit der Todesstrafe zu bestrafen. Die USA zeigen beispielhaft, wie schlecht das Prinzip von hohen Strafen zur Abschreckung funktioniert. Und nein, ich bin nicht einfach ein Gutmensch, und nein, ich will keine Vergewaltiger schützen. Sie können mir glauben, wenn es etwas nützen würde, wäre ich zu vielem fähig, wenn ich an die Betroffenen denke. Aber die Studien reden Klartext: Die Strafhöhe hat keine präventive Wirkung.

Was hingegen eine Wirkung hat, ist die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden. Eine Studie aus dem Jahr 2019 zeigt, dass gerade mal 8 Prozent aller Vergewaltigungen angezeigt werden. Die Studie von Dirk Beier «Entwicklung von Gewaltstraftaten in der Schweiz unter besonderer Berücksichtigung der Verurteiltenstatistik» aus dem Jahr 2021 zeigt, dass gerade mal 22,8 Prozent aller wegen Vergewaltigung beschuldigten Personen verurteilt werden. Rechnet man das zusammen, heisst das, dass etwa 1,8 Prozent der Täter verurteilt werden. Da nützt ein höheres Strafmass nichts.

Was wir stattdessen brauchen: Krisenzentren in Spitälern, in denen Betroffene von (sexualisierter) Gewalt von spezialisiertem Personal betreut werden. Wir brauchen Präventionskampagnen gegen Gewalt, wir brauchen Täterarbeit, Bildung an den Schulen, Aus- und Weiterbildungen für Personen, die beruflich in diesem Bereich tätig sind. Das alles ist natürlich viel weniger catchy, als zu sagen: Hinter Gitter mit denen. Es ist aber auch viel effizienter.

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