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Kolumne

Das Arbeitsleben einer ganz «normalen» Frau

Erschienen in der Sonntagszeitung vom 17. Juli 2022.

Was die Erhöhung des Rentenalters für eine Angestellte und zweifache Mutter bedeutet, zeigt der Brief von Anita.

Vertreterinnen von SVP, FDP, der Mitte und GLP haben ein Komitee zur Erhöhung des Frauenrentenalters gegründet. Sie argumentieren damit, dass sie selbst gut bis 65 arbeiten können. Doch es geht bei dieser Reform nicht um sie, denn statistisch gesehen werden sie nicht so lange arbeiten. Wer genügend verdient, geht mit 62 in Rente – egal ob Mann oder Frau. Die Rechte politisiert an der Realität der Menschen vorbei, weil sie diese Realität nicht kennt. Das zeigt auch der Brief von Anita, den wir vor kurzem erhalten haben. Hier sind Ausschnitte:

«Ich wurde dieses Jahr 58, gehöre zu den Babyboomern und arbeite noch knapp 6 Jahre. Wenn es nach den Bürgerlichen geht, soll ich noch ein Jahr länger arbeiten. Was für ein Hohn. Seit ich 16 Jahre alt bin, arbeite ich – und das auch immer gern und in verschiedenen Branchen, was mich reich an Erfahrung macht.

Ich habe zwei Kinder grossgezogen und mich nach meiner Scheidung in den letzten 25 Jahren auf eigene Kosten und ohne finanzielle Unterstützung meines Ex-Mannes stetig weitergebildet und mir so eine gute Stelle mit entsprechendem Lohn erarbeiten können.

All dies hat müde gemacht. Früher in Rente zu gehen, ist nicht möglich und wäre auch kein Antrieb, um diese Zeilen zu schreiben. Doch 2018 habe ich mir meine Rente beim Erreichen des ordentlichen Rentenalters ausrechnen lassen: Ich werde eine Rente von insgesamt 3500 Franken erhalten. Vermutlich noch weniger, weil man ja bei der BVG den Umwandlungssatz auch noch runterschrauben will. Ich bin erschrocken, denn natürlich wusste ich, dass ich keine grosse Rente bekommen werde, und das ist für mich auch o.k. Aber so wenig! (…)

Schöne Worte reichen nicht. Denn damit kann ich meinen Lebensunterhalt nicht bezahlen.

Anerkennung für das Geleistete: Das möchte ich für mich und alle Frauen. Anerkennung für meine Arbeit zu Hause. Anerkennung für meine Arbeit als Mutter. (…) Für mich hat das mit Würde und Respekt zu tun. Zur Bittstellerin zu werden, ist hart. Respekt für all die unbezahlten, aber von Herzen gern geleisteten wertvollen Stunden als Mutter, Hausfrau oder in der Freiwilligenarbeit gibt es in Form einer angemessenen Rente – und nicht schöner Worte. Denn damit kann ich meinen Lebensunterhalt nicht bezahlen. Ganz nach dem Sprichwort ‹Danke hät me gsäit, bevor me s Gält kennt hät›. Wenn ich die politischen Diskussionen höre, frage ich mich oft, ob wir im selben Land leben (…).

Hat man mit ‹normalen› Frauen meiner Generation gesprochen und, wenn ja, wirklich hingehört? Da reden und entscheiden Akademiker:innen, Anwält:innen, anhand von Statistiken, Zahlen und Theorien über einschneidende Massnahmen für viele einfache Leute, mit einem Lohn, der je nach Branche zwischen 3000 und 6000 brutto im Monat liegt – und entsprechende Renten ergibt. ‹Sie› haben keine Ahnung, wie es sich anfühlt, Monat für Monat zu hoffen, dass hoffentlich neben den fixen Kosten nicht noch was Unvorhergesehenes passiert (Bsp. Zahnarzt […]), das bezahlt werden muss.

Sich einzulassen, eine Thematik nicht nur aus der eigenen Perspektive, sondern unter Einbezug der entsprechenden realen Sorgen und Ängste der Betroffenen an sich heranzulassen, sich Entscheidungen nicht zu leicht zu machen, braucht Mut, Weisheit und Integrität.

Es ist mir sehr bewusst, dass man im Bereich der Renten etwas tun muss. Ich möchte auch, dass meine Kinder eine vernünftige und würdige Altersvorsorge haben. Aber zwischen Schwarz und Weiss gibt es auch noch Grautöne. Und Geld ist in unserem Land weiss Gott genügend vorhanden.»

Anita

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