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Kolumne Rede

Wir sind gekommen, um zu bleiben

Rede am Frauen*streik in Bern am 14.06.2019, zugleich erschienen in der SonntagsZeitung vom 23.06.2019

Ich war 14, als ich lernte, meinen Körper zu hassen. Wir waren zu Hause. Wir lasen Heftchen. Die sagten uns, wie wir auszusehen haben – und wie nicht. Was schön ist. Und was nicht.

Ich war 17, als ich lernte, dass mein Wort keinen Wert hat. Wir waren in einer Disco, wir haben getanzt. Da kam ein Typ und begrapschte mich. Als ich «Nein!» sagte, hörte er nicht auf. Er packte mich. Ich riss mich los. Ich ging. Er blieb. Am nächsten Tag hatte ich blaue Flecken an meinen Armen.

Ich war 18, als ich lernte, dass wir selber schuld sind. Weil wir uns halt anders anziehen müssen. Weil wir da halt nicht alleine hingehen sollen – oder besser gar nicht. 20, als ich lernte, dass meine Arbeit weniger wert ist. 21, als ich lernte, dass ich immer mitgemeint bin. 22, als ich lernte, dass ich mich mehr anstrengen muss. 26, als ich lernte, dass Gewaltandrohungen auch online wehtun. Als man mir weiszumachen versuchte, dass ich halt mit Massenvergewaltigungsdrohungen umgehen muss, sonst sei ich einfach nicht für den Job gemacht.

Ich war 26, als ich begriff, dass es nicht nur mir so ging. Dass keine Frau sicher ist, solange sie lebt. Denn jede meiner Freundinnen kann mindestens eine solche Geschichte erzählen. Und viele meiner Freunde haben keinen Plan, wovon zur Hölle ich rede. Ich begriff, dass es nicht Einzelfälle sind, sondern die Regel. Ich begriff, dass es um Macht geht und nicht um Lust. Ich begriff, dass es darum nie enden würde.

Dann haben Heldinnen wie Jolanda mir beigebracht, dass wir nicht schweigen müssen, egal wie mächtig die anderen sind. (#teamjolanda!) Heldinnen wie Anja, Nina, Tanja, Samira, Lotti, Anna, Kathrin, Julia haben mir gezeigt, dass ich nicht alleine bin. Heldinnen wie Ruth, Micheline, Simonetta, Barbara, Regina, Geraldine haben mich daran erinnert, dass ich nie alleine war. Darum habe ich entschieden, mir das nicht länger gefallen zu lassen. In die Offensive zu gehen. Ich habe entschieden, mich zu lieben.

Ich habe entschieden, mich zu wehren. Ich habe entschieden, solidarisch zu sein mit den Frauen auf der ganzen Welt. Darum stehe ich heute hier. Darum streiken wir heute hier. Wir streiken, weil wir sterben. Alle zwei Wochen eine Frau in ihren eigenen vier Wänden.

Wir streiken, weil mindestens 800’000 Frauen in diesem Land bereits sexualisierte Gewalt erlebt haben. Wir streiken, weil es in unseren Freundeskreisen mehr Frauen gibt, die vergewaltigt werden, als solche, die es in eine Kaderposition schaffen. Wir streiken, weil 92 Prozent der Fälle gar nicht erst gemeldet werden! Wir streiken, weil Menstruationsblut eklig ist – aber Vergewaltigungspornos boomen. Wir streiken, weil sie uns sagen, wir sollen keine Opfer sein – statt ihnen zu sagen, sie sollen keine Täter sein.

Wir streiken, weil unser Nein nicht gilt. Weder in der Bar noch im Bett noch vor Gericht. Wir streiken, weil Leute, die auf Kinder schiessen, besser bezahlt werden als solche, die sie grossziehen. Wir streiken, weil wir nicht nur die Hälfte des Kuchens wollen, sondern die ganze verfluchte Bäckerei.

Wir streiken, weil wir genug haben!

Wir, wir sind der Widerstand.

Wir, wir sind die Hoffnung.

Wir, wir sind die Zukunft.

Das hier, heute, ist nicht das Ende, es ist erst der Anfang. Wir sind gekommen, um zu bleiben.