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Kolumne

Für Büezer*innen statt Bonzen

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 13.09.2020

Als mein Vater in den 70er-Jahren seine Stelle in der Schweiz antrat, war der Schweizer Arbeitsmarkt folgendermassen organisiert: Büezer, die hierherkamen, hatten nahezu keine Rechte. Sie durften ihre Stelle nicht wechseln, ihre Familien nicht mitnehmen und mussten jedes Jahr zurückkehren und dann wieder eine neue Arbeitsbewilligung erhalten. Die Büezer bauten Strassen und Häuser in der Schweiz, aber wohnten in überfüllten Baracken unter miserablen Umständen.

Die Folgen dieser Entrechtung waren: zum Beispiel «verbotene» Kinder, die sich in Schränken versteckten, und ausbeuterische Arbeitsbedingungen. Weil die Saisonniers keine Rechte hatten, konnten sie sich nicht wehren. Das führte zu Lohndruck und Lohndumping. Und zwar für alle Büezerinnen in der Schweiz: Die Löhne sind nur so stark wie das schwächste Glied in der Kette. Kommen die unteren Löhne ins Rutschen, sinken alle Löhne. Genau das passierte.

Die Wende kam erst mit der Einführung der Personenfreizügigkeit, verbunden mit umfassenden Lohnschutzmassnahmen (besser bekannt als «flankierende Massnahmen»). Erstmals gab es in der Schweiz verbindlich vorgeschriebene Mindestlöhne, mehr Lohnkontrollen, allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge und Sanktionen bei Verstössen gegen die Lohnschutzmassnahmen. Ganz konkret führte das zum Beispiel dazu, dass sich die weitverbreitete Schwarzarbeit – die den Lohndruck und das Lohndumping weiter verstärkte – mit der Einführung der Personenfreizügigkeit halbierte.

Kurz: Besserer Lohnschutz für alle, weniger Diskriminierung, mehr Kontrollen.

Der SVP ist all das ein Dorn im Auge. Die SVP will, dass weiterhin die Büezer die Profite für die Bonzen erarbeiten – aber bitte ohne Lohnschutzmassnahmen und ohne Rechte. Die grösste Lüge im Abstimmungskampf zur «Begrenzungsinitiative» ist, dass es ihr um weniger Zuwanderung gehe. Darum geht es nicht. Es geht ihr um die Abschaffung der Lohnschutzmassnahmen, darum, die Büezerinnen gegeneinander auszuspielen. Eigentlich müssten wir von der «Lohndumping-Initiative» sprechen.

Die Migrationsgeschichte der Schweiz hat letzten Endes also nicht nur zu einer Emanzipation der Büezer gegenüber dem Staat und gegenüber den Arbeitgebern geführt, auch in einem ganz anderen Bereich stärkte die Migration die Rechte und Freiheiten von uns allen, vor allem aber der Büezerinnen: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren drei Viertel der erwerbstätigen Frauen Migrantinnen. Und weil diese kein familiäres Netz in der Schweiz hatten, führte das zu einem Ausbau der Krippenplätze in der Schweiz.

Neben dem Ausbau dieser Infrastruktur, ohne den die (trotzdem noch immer unzureichende) Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht denkbar wäre, normalisierte das erstmals die ausserfamiliäre Kinderbetreuung. Also die Idee, dass Kinder zu erziehen nicht einfach eine Aufgabe von Privaten, sondern von uns allen ist. Entsprechend sollten Kinderkrippen auch von allen finanziert für alle zur Verfügung stehen. Der Weg dahin ist hoffentlich kürzer als der vom Saisonnierstatut bis zur Einführung der Personenfreizügigkeit.