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Kolumne

Feminismus bedeutet mehr als Gleichstellung

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 31.01.2021. Co-Autorin dieser Kolumne ist Mia Jenni, Mitglied der Geschäftsleitung der Juso Schweiz.

Frauen eine Chance auf dieselbe Ausbeutung im kapitalistischen Hamsterrad zu geben, reicht nicht mehr. Es braucht jetzt eine feministische Revolution.

Endlich hat auch das Schweizer Frauenstimmrecht einen runden Geburtstag erreicht – und wir, Frauen, Feminist*innen, Töchter und Mütter, schauen zurück. Zum Vergleich: Österreich feierte 2018 hundert Jahre Frauenstimmrecht. 2021 feiern wir 50 Jahre; dank Frauen wie Emilie Gourd, Antoinette Quinche oder der ehemaligen SP-Ständerätin Emilie Lieberherr, die nicht lockerliessen. Sie wollten die Frauen rechtlich den Männern gleichgestellt sehen. Das war ihre Vision.

Nach und nach führten sie das Frauenstimmrecht in den Gemeinden ein, und sie warfen den Bettel nicht hin, als die Schweizer Männer im Februar 1959 das Frauenstimmrecht ablehnten. Viel zu wichtig, viel zu grundsätzlich war dieses demokratische Anliegen der sogenannten ersten feministischen Welle, der Suffragetten und Egalitätsfeminist*innen. Auf den Schultern dieser stolzen Gigantinnen baut unser heutiger Kampf. Ein Kampf, der sich weiterentwickelt hat; inklusiver und differenzierter wurde. Anders als vor 50 Jahren und als bei den liberalen Feminist*innen sind unsere Ziele radikaler und vielfältiger.

Mehr als Frauen in den Teppichetagen der Konzerne

Wir linken FLINTs (Frauen, Lesben, inter, nonbinary und trans Menschen) wollen keine Gleichstellung mit den ebenfalls durch den Kapitalismus und das Patriarchat ausgebeuteten Cis-Männern. Wir wollen keine Chancengleichheit in diesem maroden System, das endliche Ressourcen und die Natur behandelt, als wäre es Mary Poppins’ magische Reisetasche. Wir wollen nicht möglichst viele Frauen in die Teppichetagen der Konzerne pushen. Das wäre eine weitere Form der Meritokratie. Und damit geben wir uns nicht (mehr) zufrieden. Wir wollen die feministische Revolution.

Feminismus bedeutet mehr als Gleichstellung. Es bedeutet, für die Freiheit jedes einzelnen Menschen dieser Erde zu kämpfen, Unterschiede wahrzunehmen und zu respektieren. Es bedeutet «jede*r nach seinen*ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten» statt «jedem Chancengleichheit auf gleiche Ausbeutung im kapitalistischen Hamsterrad».

Eine neues Verständnis von Arbeit und Wirtschaft

Linker Feminismus definiert Arbeit neu, integriert die unbezahlte Care-Arbeit in ihre Überlegungen und anerkennt, wer den Löw*innenanteil ebendieser Arbeit global und in der Schweiz leistet. Eben nicht die Teppichetagen. Es sind die Mütter, die Pfleger*innen, die Kinderbetreuer*innen, die Putzkräfte, die Detailhandelsangestellten. Es sind die Näher*innen, Fabrikarbeiter*innen und Feldarbeiter*innen im globalen Süden. Alle mehrheitlich Frauen und FLINTs. Streikten sie nur eine Stunde, die Welt würde im Chaos versinken. Und dennoch, diese essenzielle Arbeit wird grossmehrheitlich gratis oder unter miserabler Entlöhnung sowie enormem Zeitdruck geleistet. Diese Arbeit muss erkannt und respektiert werden. Sie braucht Zeit und öffentliche Gelder.

Diverse Realitäten, gleichwertige Forderungen

Feminismus fordert ein gutes, freies Leben für alle. Wir FLINTs müssen die Selbstbestimmung über unsere Körper, unsere Beziehungen, unsere Identitäten haben. Wir sind keine Geburtsmaschinen für neue Arbeitskräfte des Kapitalismus, Abtreibungen müssen allen zugänglich sein und bleiben. Wenn wir aber Kinder wollen, dann muss sich die Wirtschaft an uns orientieren – und nicht wir uns an der Wirtschaft. Wir müssen nicht herkömmlichen Mustern wie Heteropartnerschaften, Ehen, Geschlechtern wie Mann und Frau folgen – wir können, wenn wir es wünschen. Wir sind divers; wir haben verschiedene Körperformen, Kulturen, Erfahrungen und Hautfarben. Wir haben verschiedene Bedürfnisse – ein Fakt der gefeiert werden muss und nicht unter den Teppich gekehrt werden soll.

Unser Feminismus bekämpft strukturelle Gewalt – auch in den eigenen Reihen. Das heisst, wir fordern Platz und Repräsentation für alle. Unsere Forderungen müssen gehört und als gleichwertig angesehen werden. Unser Kampf braucht Ressourcen.

Analyseinstrument, politische Praxis und Utopie

Unser linker Feminismus ist mehr als Gleichstellung. Es ist ein Analyseinstrument, eine politische Praxis und die Utopie einer demokratischen Wirtschaft, die sich an den unterschiedlichen Bedürfnissen aller orientiert, eine Welt ohne Ausbeutung, Gewalt und Diskriminierung verlangt und Freiheit für alle garantiert. Kurz: Es ist die einzig denkbare Zukunft.

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